14 - Der große Krieg
der Geschlechter und des kollektiven Gedächtnisses.
Dabei werden auch die klassischen Probleme des Ersten Weltkriegs behandelt, die bis heute von Interesse und Bedeutung sind. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage nach den Ursachen des Krieges und der Verantwortung für seine Auslösung. Zentral ist auch die Frage, wieso der Krieg zu einer derart unerhörten Entfaltung technisch-industrieller Gewalt führte und warum er so lange dauerte. Warum kämpften die meisten Soldaten weiter – trotz der immer offenkundigeren Sinnlosigkeit des Krieges, seiner unvorstellbaren Grausamkeit und seiner enormen wirtschaftlichen und menschlichen Kosten? Wie und in welchem Maße gelang es den beteiligten Staaten, ihre wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Ressourcen für den Krieg zu mobilisieren? Warum waren die Siegermächte dabei letztlich erfolgreicher als Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland? Wie und warum endete der Krieg? Durch den militärischen Zusammenbruch der Besiegten oder durch die Erschöpfung ihrer wirtschaftlichen und politischen Reserven und die Auflösung ihres inneren Zusammenhaltes? Welche Folgen hatte der Krieg für diepolitische Ordnung der beteiligten Länder und für ihre Gesellschaften, für das Verhältnis der sozialen Klassen, der Geschlechter und der Generationen?
Am Ende muss die Frage stehen, wie an den Krieg erinnert und seine elementarste Folge, der Tod von fast zehn Millionen meist junger Männer, verarbeitet wurde. Dieser Verlust war für alle beteiligten Gesellschaften eine Herausforderung, die sie für Jahrzehnte geprägt hat. In die Ehrung der Toten wurden fast überall enorme Energien investiert. Die Trauer der unmittelbar Betroffenen war dadurch kaum zu mildern. Im öffentlichen Raum hat der Krieg nach 1918 ganz verschiedene Kulturen des Erinnerns und Vergessens hervorgebracht. Und auch heute spielt der Krieg im kollektiven Gedächtnis der beteiligten Nationen noch eine ganz unterschiedliche Rolle. Ob hundert Jahre nach seinem Beginn die Zeit für eine gemeinsame europäische, transnationale oder gar globale Erinnerung an den Krieg reif ist, muss sich erst noch zeigen.
Kapitel 2
INDUSTRIELLER KRIEG
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Der Erste Weltkrieg wurde an vielen Fronten ausgetragen. Die Kämpfe im Osten Europas forderten mehr Menschenleben als anderswo. Aber entschieden wurde der Krieg trotz aller Siege der Deutschen an der russischen Front letztlich im Westen. Hier trafen die wichtigsten Industriegesellschaften der Zeit mit voller Wucht aufeinander. Hier zeigte sich am deutlichsten, was den Ersten Weltkrieg von vorangehenden wie späteren Kriegen unterschied: der schier endlose Stellungskrieg und die industrielle Materialschlacht mit ihrem unbeschreiblichen Grauen. Entsprechend hat die Westfront die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg stärker geprägt als alle anderen Fronten und Kriegsschauplätze.
Von Lüttich bis Mons
Anfang August 1914 kam es an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien zum größten Truppenaufmarsch der bisherigen Weltgeschichte. Die Deutschen folgten ihren auf Schlieffen zurückgehenden Planungen und setzten fast sieben Achtel ihrer Kräfte im Westen ein. Nur neun Divisionen wurden zur Verteidigung Ostpreußens abgestellt, zwei weitere in Schleswig-Holstein für den Fall einer britischen Landung in Bereitschaft gehalten; 76 Divisionen mit fast 1,5 Millionen Soldaten marschierten an den Westgrenzen auf, darunter auch Reservedivisionen. Frankreich mobilisierte 88 Divisionen; die relativ schlecht ausgebildete und ausgerüstete belgische Armee kam auf 117
000 Mann. Unterstützt wurden sie vom britischen Expeditionskorps, das aus 100
000 Berufssoldaten und Reservisten bestand. Insgesamt verfügte die Entente im Westen am Anfang des Krieges über 2,2 Millionen Soldaten. 1
Der Schwerpunkt des deutschen Aufmarschs lag auf dem rechten Flügel; 40 Prozent ihrer Kräfte setzte die Heeresleitung hier ein. Die 1., 2. und 3. Armee sollte Belgien rasch durchqueren, den Gegner nach Südosten abdrängen, umfassen und möglichst vernichtend schlagen. Manches deutet darauf hin, dass die entscheidenden Schlachten in der Nähe der Grenzen und der deutschen Eisenbahnknotenpunkte geschlagen werden sollten, von wo eine rasche Verlegung der Truppen nach Osten möglich war, dass also gar nicht so tief ins Feindesland eingedrungen werden sollte. Ein Vorstoß bis nach Paris, wie ihn Schlieffens Denkschrift von 1906 vorsah, war vermutlich nur für den
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