Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
Mit Kindern auf Augenhöhe sein
Gleichwürdigkeit ist ein Begriff, den ich vor rund 20 Jahren geprägt habe und der mir als der passendste erscheint, um eine der entscheidendsten Qualitäten in zwischenmenschlichen Beziehungen zu beschreiben. Gleichwürdigkeit bedeutet nicht Gleichheit, das auch im rechtlichen Sinne gebraucht wird, und auch nicht Ebenbürtigkeit, das im heutigen Sprachgebrauch »gleich stark« bedeutet.
Gleichwürdigkeit in Beziehungen bedeutet nach meinem Verständnis, anzuerkennen, dass alle Menschen, egal welchen Alters, von gleichem Wert sind, und die persönliche Würde und Integrität des anderen zu respektieren.
Die Bedeutung der Gleichwürdigkeit stützt sich auf zwei Quellen: Die eine ist die klinische Erfahrung aus meiner Arbeit mit gestörten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Die andere Quelle ist die wissenschaftliche Forschung zur frühen Bindung zwischen Eltern und Säuglingen. Für diese Arbeit stehen bedeutende Namen wie Daniel N. Stern, Peter Fonagy und andere. Eine ihrer Schlussfolgerungen ist, dass die gesündesten Beziehungen sich dann einstellen, wenn die Beziehung eine »Subjekt-Subjekt-Beziehung« und keine »Subjekt-Objekt-Beziehung« ist. Das Kind also wie ein Mensch und nicht wie ein Ding behandelt wird.
Eine gleichwürdige »Subjekt-Subjekt-Beziehung« bedeutet also eine Beziehung, in der die Gedanken, die Reaktionen, die Gefühle, das Selbstbild, die Träume und die innere Wirklichkeit des Kindes genauso ernst genommen werden wie die der Erwachsenen. Die Führungsrolle in der Familie bleibt nach wie vor bei den Eltern, aber wenn sie ihre Kinder als gleichwürdig wahrnehmen, ihre individuellen Eigenschaften respektieren und ihre Wünsche und Bedürfnisse bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, wird die Qualität dieser Führung entscheidend verbessert.
Eine solche Einstellung zu verinnerlichen ist nicht leicht, denn viele Eltern wurden in ihrer Erziehung und Ausbildung selbst als Objekt behandelt. Meistens hatten sie es in ihrer Jugend mit Erwachsenen zu tun, die Macht ausübten, anstatt fürsorglich zu sein. Gehorsam, Respekt und die Fähigkeit sich einund unterzuordnen galten als Erziehungsideal – somit ist es wichtig, sich in dieser Zeit des übergangs immer wieder die Fragen zu stellen: »Was sind meine eigenen, ganz persönlichen Werte? Wie bewahre ich meine eigene Integrität, damit ich die meines Kindes wahren kann? Wie gelingt es mir, meine Eigenheiten und Fehler anzunehmen, damit ich mein Kind um seiner selbst willen liebe und nicht, weil es etwas Bestimmtes tut oder sein lässt?« Gleichwürdigkeit ist ein dynamischer Prozess, etwas, um das wir uns jeden Tag aufs Neue bemühen sollten. Es lohnt sich, denn Gleichwürdigkeit ist die Grundlage dafür, dass Beziehungen ein Leben lang von Vertrauen und Liebe geprägt sind.
In den folgenden Briefen und Kolumnen wird deutlich, dass alle Eltern ihren Weg zu einer gleichwürdigen Beziehung noch suchen müssen, da sie wie jeder von uns ihr persönliches Päckchen aus Glaubenssätzen und Verhaltensmustern in die Familie mit einbringen. Die einen halten Konsequenz für die richtige Wahl der Erziehung, wie im Brief der Großmutter deutlich wird, die frustrierte Mutter denkt, ihr Schonprogramm sei das Beste für die Kinder, um nur zwei Beispiele zu nennen. Allen gemeinsam ist, dass die Idee der Gleichwürdigkeit ihre schwierigen Beziehungen in konstruktive wandeln könnte.
Ich habe die positive Erfahrung gemacht, dass der Lernprozess bei den meisten Eltern relativ schnell vorangeht, weil der Erfolg in Form einer guten Beziehung sich fast unmittelbar einstellt.
Das Dilemma einer Großmutter
Nach dem Mittagessen am gestrigen Sonntag braucht meine Familie einen guten Rat von Ihnen. Ich bin Großmutter eines wunderbaren 3-jährigen Jungen, mit dem ich glücklicherweise viel Zeit verbringen darf. Gestern ist er mit seinen Eltern zu Besuch gekommen. Sein Vater, also mein Sohn, wurde von einer »sanften« Mutter und einem etwas strengeren Vater aufgezogen. Wir waren beide nicht besonders konsequent und oft verschiedener Meinung, was die Erziehung unseres Sohnes anging.
Mein Sohn und seine Partnerin hingegen sind beide gleich streng und stützen sich stets in dem, was der andere tut. In alltäglichen Fragen wie dem Essen und den Schlafenszeiten sind sie äußerst konsequent. Obwohl sie sehr jung sind, habe ich sie immer für großartige Eltern gehalten. Doch manchmal gehen sie mir mit ihrer ewigen Konsequenz ein
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