1408 - Der Totenholer
Der alte Mann lag bereits in seinem Sarg. Der stand nicht in einem Beerdigungsinstitut, das wäre für Harriet und Jack Melrose zu unpersönlich gewesen.
Der Bestatter hatte ihnen den Sarg ins Haus gebracht, und seinen Platz hatte er im Wohnraum des Ehepaars gefunden. Dafür war der Tisch zur Seite gerückt worden.
Totenwache wollten sie halten. Abel Melrose hatte bei seinem Sohn und der Schwiegertochter die letzten Tage seines Lebens verbracht, bis ihn der Tod zu sich geholt hatte.
Es war für das Ehepaar eine schlimme Zeit gewesen, denn Jacks Vater war sehr qualvoll gestorben. Der verfluchte Krebs hatte ihn innerlich förmlich aufgefressen. Er hatte stark an Gewicht verloren, zum Schluss war er nur noch ein Skelett mit Haut gewesen.
Das Licht brannte. Nur sehr gedämpft. Niemand wollte den grausamen Anblick zu direkt sehen. So breitete sich das weiche Licht aus und ließ das Gesicht nicht ganz so schaurig erscheinen.
Jack Melrose hatte seinem Vater die Augen geschlossen. Es wäre für ihn nicht zu ertragen gewesen, diesen leeren und schrecklichen Blick zu sehen, aber bei ihm bleiben musste er. Der Stuhl, auf dem er saß, war recht hart. Jack merkte die Härte nicht. Er schaute gegen das Gesicht des Toten, und sehr viel ging ihm durch den Kopf. Er dachte an seine Kindheit, an die Jugend, aber auch an seine Mutter, die viel zu früh verstorben war.
Jetzt gab es den Vater nicht mehr. Und Jack, der bereits über fünfzig war, fühlte sich wie ein Waise.
Hin und wider trank er einen Schluck Wasser. Immer dann, wenn er das Glas wieder absetzte, glitt sein Blick nach vorn und über den offenen Sarg hinweg zum Fenster, das von der Decke bis zum Boden reichte. Dahinter breitete sich der Garten aus, über den die Dunkelheit ihr Tuch ausgebreitet hatte.
Er sah nicht viel. Ein Feld, dahinter eine Straße, aber keine anderen Häuser. Ihr Haus stand einsam, und hier hatten Harriet und Jack seit ihrer Heirat vor fast dreißig Jahren gewohnt.
Von nun an allein, auch wenn der Vater als schreckliche Horrorgestalt in seinem Sarg lag. Es war für beide noch immer nicht begreifen, dass ein Mensch derartig zusammenfallen konnte, sodass er den Namen nicht mehr verdiente. Ein schneller Tod wäre eine Gnade gewesen, aber die war Abel Melrose leider nicht vergönnt gewesen.
Tränen hatte Jack nicht mehr. Die letzten Tage waren einfach zu schlimm gewesen. Er hatte die Lippen zusammengepresst und konnte nur durch die Nase atmen.
Mitternacht war vorbei. An diesem Tag würde Abel abgeholt werden. Zwei Tage später war dann die Beerdigung. Danach mussten die beiden Melroses ihr Leben neu einrichten.
Wieder schaute er aus dem Fenster. Das Land dahinter konnte man als Feld ansehen. Ein kleiner Garten gehörte ebenfalls zum Haus. Allmählich erwachte in ihm auch der Frühling. Die lange klare Winterzeit war nun endgültig vorbei.
Hinter ihm wurde die Tür geöffnet. Sehr leise, als wollte die eintretende Person die Totenruhe nicht stören. Jack Melrose drehte sich nicht um. Er wusste, dass seine Frau das Zimmer betrat, denn eine andere Person gab es nicht mehr im Haus.
Sie kam zu ihm, blieb hinter ihm stehen und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
»Jack…«
»Was ist?«, fragte er müde.
»Wie lange willst du noch hier sitzen?«
»Ich weiß es nicht«, murmelte er und schüttelte dabei den Kopf.
»Eigentlich habe ich mir vorgenommen, die ganze Nacht über Totenwache zu halten. Das bin ich meinem Vater schuldig.«
»Ich weiß. Aber du solltest auch an dich denken.«
Jack winkte nur ab.
»Doch, das solltest du, mein Lieber. Auch uns stehen schwere Zeiten bevor. Die Beerdigung und…«
»Ich weiß, Harriet, aber…«
»Leg dich hin.«
Jack musste lachen. »Meinst du, dann ginge es mir besser? Ich werde keinen Schlaf finden.«
»Es käme auf einen Versuch an. Ich denke, dass du kein schlechtes Gewissen haben musst.«
Jack hob beide Arme an und legte die Hände auf die der Frau. »Ich weiß ja, dass du es gut meinst, aber…«
»Bitte, keine Ausreden.«
Jack Melrose schloss die Augen. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf. Sollte er den Platz verlassen? Sollte er bleiben? Die Vernunft sprach dagegen, und sie siegte schließlich.
»Gut, Harriet, ich werde es versuchen.«
»Dann komm.«
Mühsam stand er auf. »Der Sarg bleibt offen – ja?«
»Wenn du es willst.«
»Ja, und das Licht lasse ich auch brennen.«
»Natürlich.«
Jack warf noch einen letzten Blick auf seinen Vater. Er wollte ihm etwas sagen, doch er
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