1408 - Der Totenholer
Gefühlen handeln, und die sagen mir, dass ich mich nicht ausziehen soll. Du kannst darüber lachen, aber es ist einfach so.«
»Klar, verstehe. Es ist dein Vater.«
»Danke, Harriet. Ich weiß es nicht, aber es kann sein, dass ich wieder aufstehe und zu ihm gehen muss. Es mag sich lächerlich anhören, doch irgendwie möchte ich mein Gewissen beruhigen.«
Harriet strich über den linken Arm ihres Mannes. »Es ist alles klar. Ich bin auch irgendwie stolz auf dich, dass du so menschlich handelst. Es ist eine verdammt schwere Zeit, und sie wird auch noch bis zur Beerdigung andauern. Aber danach – und darauf sollten wir uns jetzt schon vorbereiten – muss es vorbei sein. Dann sollten wir wirklich so etwas wie ein neues Leben beginnen und vor allen Dingen für mindestens zwei Wochen in Urlaub fahren.«
Die Worte taten ihm gut. Jack konnte wieder lächeln. »Danke, das habe ich jetzt gebraucht.«
»Dann versuche…«
»Nein, Harriet, ich werde wohl nicht schlafen können. Aber du kannst es versuchen.«
»Das muss ich auch. Die letzten Nächte sind einfach zu kurz gewesen. Du weißt selbst, wie erschlagen wir uns am Morgen gefühlt haben. Das will ich abstellen.«
»Tu das.«
»Das gilt aber auch für dich.«
Jack lachte. »Es tut mir Leid, aber niemand kann aus seiner Haut. Das ist nun mal so.«
»Sicher.« Harriet wollte das Gespräch nicht mehr weiterführen.
Sonst kam sie nie zur Ruhe. Deshalb schwieg sie und schloss auch die Augen, um Entspannung zu finden.
Auch Jack sagte nichts mehr. Im Gegensatz zu seiner Frau schaffte er es nicht, sich zu entspannen. Zwar lag er im Bett und sagte nichts mehr, er hielt auch die Augen geschlossen, aber Ruhe fand er nicht.
Innerlich war er einfach zu aufgewühlt. Das verstand er selbst nicht.
Sein Vater war gestorben. Nach all dem Leiden hätte er eigentlich ruhiger sein müssen, und genau das war er nicht. Er spürte die innerliche Unruhe, die sich einfach nicht lösen wollte. Er hatte das Gefühl, dass er nicht mehr mit seiner Frau allein war. Dass sich irgendetwas in der Nähe befand. Ob in oder außerhalb des Hauses, das konnte er nicht mal mit Bestimmtheit sagen. Aber so wie jetzt war es in den letzten Nächten eigentlich noch nie gewesen.
Eine nicht erklärbare Unruhe hatte sich in seinem Innern ausgebreitet. Er hatte trockene Lippen bekommen. Ein paar Mal leckte er darüber hinweg und stellte fest, dass es nichts half.
Er richtete sich auf.
Seine Frau bemerkte es. »Wo willst du hin? Wieder zu deinem Vater?«
»Nein, in die Küche. Ich muss etwas trinken, weil ich das Gefühl habe, dass der Mund ausgetrocknet ist.«
»Okay.« Harriets Stimme lang bereits müde. Er kannte das. Seine Frau würde bald eingeschlafen sein.
Jack stand auf. Er war froh, sich nicht ausgezogen zu haben. So trug er noch seine normale Kleidung und konnte auch in die flachen Schuhe schlüpfen.
Mit leisen Schritten verließ er das Schlafzimmer. Der Weg in die Küche war nicht weit. Er ging zum Kühlschrank. Bier oder Wasser?
Darüber dachte er nur kurz nach. Er entschied sich für das Wasser und holte die Flasche hervor, die er aufdrehte. Dabei lauschte er dem Zischen und setzte sie wenig später an. Er trank mit langen durstigen Zügen. Den Blick hielt er auf das Fenster gerichtet. Da er das Licht in der Küche nicht eingeschaltet hatte, konnte er recht gut nach draußen schauen. Es war nicht der Blick in den Garten, sondern nach vorn hin, wo die recht schmale Straße verlief.
Etwas raste wie ein Stromstoß durch seinen Kopf. Plötzlich war er nicht mehr fähig, die Flasche zu halten. Sie rutschte ihm aus der Hand und prallte zu Boden. Glücklicherweise bestand sie aus Kunststoff, so gab es keine Scherben.
Die Augen hatte Jack Melrose weit geöffnet. Er konnte nur durch das Fenster starren und nicht woandershin, denn was er vor dem Haus sah, war unglaublich…
***
Ein Monster? Oder doch nur ein Schatten? Eine Halluzination?
Es war Jack Melrose nicht möglich, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Allerdings stand für ihn eines fest: Was sich da bewegte, hatte nichts mit einem normalen Menschen zu tun, und er sah diese Gestalt auch nicht als einen Einbrecher an, denn der hätte sich anders verhalten und versucht, in das Haus einzudringen.
Aber was war er?
Jack Melrose konnte sich keine Antwort auf diese Frage geben. Er stand nur da und glotzte gegen die Scheibe. Draußen war es zu dunkel, um Einzelheiten auszumachen. So sah er nur diese unheimliche Gestalt, bei der etwas
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