1410 - Mallmanns Blut-Bräute
sich inmitten einer Geschichte, wie sie ansonsten seine Lieblingsautoren verfassten, nur mit dem einen Unterschied, dass diese Geschichte stimmte und der Wahrheit entsprach.
Wie ein gehorsamer Junge schritt er neben Justine her. Sie fasste ihn nicht mal an, weil sie wohl davon ausging, dass er keinen Fluchtversuch unternehmen würde.
»Du kennst dich hier bestimmt besser aus als ich, Linus. Wo steht denn die nächste Bank?«
»Nach rechts.«
»Okay, gehen wir.«
Die Bank befand sich an einem recht zentralen Ort. Hier war praktisch die Grenze zwischen dem alten und dem neuen Teil des Friedhofs. Wer hier saß, der konnte beide Teile im Auge behalten und auch den Turm der Kirche sehen, der alles überragte.
Auf den grün gestrichenen Sitzbohlen lag ein feuchter Film. Um den guten Willen zu beweisen, setzte sich die Frau mit den blonden Haaren als Erste. Mit der flachen Hand klopfte sie auf die Sitzfläche neben sich.
»Bitte, setz dich!«
Linus nickte. Er befand sich innerlich noch immer in einer Abwehrhaltung, als er schließlich vorsichtig seinen Platz einnahm. Und er blieb so steif sitzen wie ein Teenager bei seinem ersten Rendezvous.
Einige Sekunden verstrichen, bevor die Blonde wieder zu sprechen begann. »Du hast Angst, nicht?«
Linus nickte.
»Vor mir?«
Sein »Ja« war nur geflüstert.
Justine lachte leise. »Ich denke mal, du reagierst völlig normal. Aber ich möchte gern von dir wissen, warum du Angst vor mir hast. Bitte, du kannst offen und ehrlich sein, denn du hast von mir nichts zu befürchten.«
Linus Hill ging es wieder besser. Er konnte normal atmen, was er auch tat. Aber er dachte genau über seine Antwort nach, weil er befürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden.
Justine wollte ihm helfen. »Es war schon im Zug so, dass du dich gefürchtet hast – oder?«
Wieder nickte er.
»Und was hast du gedacht?«
»Ich konnte dich nicht im Spiegel sehen. Da glaubte ich, Bescheid zu wissen.«
»Und jetzt?«
Linus traute sich nicht, ihr zu antworten. Er konnte nur die Schultern anheben.
»Jetzt bist du der Meinung, dass du dich nicht geirrt hast. Dass ich eine Vampirin bin und mich vom Blut der Menschen ernähre. Dass ich den Wirt ausgesaugt habe, richtig?«
Der Junge schluckte. Sprechen konnte er nicht. Die Blonde hatte genau das gesagt, was er sich dachte. Ja, so und nicht anders war es gewesen und…
»He, ich werde dich schon nicht fressen. Du kannst mir vertrauen. Manchmal ist es besser, wenn man sich mit Beelzebub zusammentut, um den Teufel zu vertreiben. Kennst du das Sprichwort?«
»Ich habe es gelesen.«
»Du liest viel, nicht?«
Linus senkte den Kopf. Er wollte die Blonde nicht ansehen bei seinen Antworten. »Kann man so sagen.«
»Daher hast du auch dein Wissen über Vampire, was?«
»Ja, ja…«
»Und du bist davon überzeug, dass ich eine Blutsauergin bin und auch den Wirt leer getrunken habe.«
Linus schwieg. Er traute sich nicht, die Worte der Frau zu bestätigen.
Justine hatte für sein Verhalten Verständnis. Sie ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie wieder sprach.
»Ich gebe dir teilweise Recht, Linus. Ich bin wirklich eine Vampirin und ernähre mich vom Blut anderer Menschen. Deshalb hast du mich nicht im Spiegel sehen können. Diese alte Regel gilt noch immer. Aber ich schwöre dir, dass ich etwas nicht getan habe: Ich habe den Wirt nicht zum Vampir gemacht. Im Gegenteil, ich hätte es sogar verhindert. Leider ist es mir nicht gelungen, und deshalb habe ich ihn töten müssen, um andere Menschen vor ihm zu schützen.«
Linus Hill hatte genau zugehört. Jedes Wort war förmlich in seinen Verstand hineingetropft. Er schaute dabei nach vorn und dachte darüber nach. Auf seinem Gesicht hatte sich eine kalte Schicht gelegt. Er wusste nicht, ob es sich dabei um Feuchtigkeit handelte oder ob es der Schweiß war.
»Hast du mich verstanden?«
»Das habe ich.«
»Und was sagst du?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Linus. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll…«
»Es ist die Wahrheit.«
Linus wandte den Kopf. Zum ersten Mal schaute er die Blutsaugerin an, und er sah das Lächeln der geschlossenen Lippen.
»Du wolltest darüber genau nachdenken, was ich gesagt habe, Linus. Es ist wichtig. Du bist clever, und ich denke, dass du auch auf die Lösung kommst.«
Justine Cavallo ließ ihm Zeit. Der Nebel wallte noch immer über den Friedhof. Er war hier der eigentliche Herrscher, denn er verwandelte den Totenacker in eine geisterhafte Fläche
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