1410 - Mallmanns Blut-Bräute
teuer, und die Menschen waren auch nicht bereit, so viel Geld für ihre Toten auszugeben.
Linus Hill erreichte das Tor. Er stellte sich neben eine der Säulen und nutzte sie als Deckung. Nach einer kurzen Wartezeit schielte er um sie herum und sah, dass die grauen Nebeltücher auch die Steine und Kreuze auf dem Friedhof umwaberten.
Wo steckte die Frau mit dem Sack?
Linus musste passen. Der Nebel schlich über die Gräber hinweg.
Er drängte sich in die schmalen Wege hinein und war so dicht, dass der Junge nichts sah und auch nichts hörte.
Das würde der Frau ebenfalls so gehen, und deshalb betrat auch er den Friedhof.
Er ging geduckt, was auch so bleiben würde. So konnte er sich sogar hinter den nur mittelhohen Grabsteinen verstecken. Dabei blieb er auf den Wegen. Über Gräber zu laufen bringt Unglück, hatte er mal gelesen, und daran hielt er sich.
Wenn er daran dachte, dass er von zahlreichen Toten umgeben war, liefen Schauer über seinen Rücken hinweg. Er hatte mal eine böse Geschichte über Zombies gelesen. Da waren die Leichen plötzlich als mehr oder minder verweste Gestalten aus den Gräbern geklettert.
Er wandte sich dem alten Teil des Friedhofs zu. Dort standen noch die hohen Grabsteine. Da herrschte auch der Wildwuchs der Natur.
Viele Gräber waren zur Hälfte verdeckt, mache sogar fast zugewachsen, und es gab auch Dornenhecken, die sich im Lauf der Zeit gebildet hatten.
Er fand die Frau nicht. Er hörte auch keine Schritte. Hatte sie schon ihr Ziel erreicht?
Linus näherte sich mit kleinen leisen Schritten einer Kreuzung. Er war froh, dass niemand Kies auf den Boden gestreut hatte, und er sah, dass nur der graue Nebel über die kleine Kreuzung wallte.
Rechts von ihm stand der alte Wasserbottich. Im Winter war er mehr gefüllt als im Sommer. Plötzlich überfiel ihn ein bestimmter Gedanke. Er schauderte selbst davor, aber er wollte es einfach herausfinden und überwand sich.
Drei Schritte musste er noch gehen, bis er den Wasserbottich erreichte. Auch über dessen Oberfläche hinweg trieb der Nebel.
Er schaute hinauf – und bekam große Augen.
Dicht unter oder sogar auf der Oberfläche schwamm der Sack. Er hatte sich mit Wasser vollgesaugt und war auch an seiner Oberseite geöffnet worden. Das Leinen hatten sich eng um den Körper eines Mannes gelegt, doch das interessierte Linus nicht.
Er sah nur das Gesicht.
Er kannte es und sah seinen Verdacht bestätigt. Die bleiche Fratze gehörte Terence Dalton, dem Wirt…
***
Was Linus Hill in diesen Augenblicken dachte, wusste er wohl selbst nicht.
Auch wenn er viel über Tote gelesen hatte, er sah eine Leiche zum ersten Mal, und all seine Vorurteile wurden bestätigt.
Selbst bei diesem Nebel sah der Junge deutlich das wächserne und jetzt auch nasse Gesicht. Der Mund des Toten war nicht geschlossen.
Er stand so weit auf, als wollte die Leiche noch einen letzten Atemzug holen.
Linus Hill rannte nicht weg. Er konnte es nicht und hatte das Gefühl, stehen bleiben und sich den Toten anschauen zu müssen. Als gehörte es zum Erwachsen werden.
Und deshalb sah er auch die ungewöhnlichen Flecken am Hals der Leiche. Sie verteilten sich wie größere Tupfen, und er blickte auch in das Gesicht, aber da waren diese Flecken nicht zu sehen.
Linus machte sich seine Gedanken. Er wunderte sich darüber, dass er dies überhaupt schaffte, und es kam ihm tatsächlich etwas in den Sinn. Er dachte an den Spiegel, an die Frau und…
Im nächsten Augenblick wurden seine Gedanken unterbrochen. Er bekam einen Vorgang zu sehen, den er im ersten Augenblick nicht fassen konnte. Der Körper der Leiche bewegte sich. Da das Becken recht groß war, konnte er sogar etwas wegtreiben.
Das tat der Kopf nicht.
Er blieb liegen, und das konnte nur einen Grund haben, den Linus Hill auch sehr schnell begriff.
Jemand hatte den Kopf vom Körper getrennt, und dafür musste es einen Grund geben!
Der junge Zeuge tat nichts. Das konnte er auch nicht. Er schien mit dem Boden verwachsen zu sein. In diesen schrecklichen Sekunden, die sich immer mehr in die Länge dehnten, schien Linus seine Kindheit zu verlieren. Er sah, aber er wollte nicht begreifen. Nein, das alles konnte er nicht fassen. Und so fühlte er sich in sich selbst gefangen und dachte auch nicht mehr an die Person, die diesen Toten in einen Sack gesteckt und weggeschleppt hatte.
Aber Justine Cavallo war noch da. Hinter Linus meldete sie sich mit lauernder Stimme.
»Nun? Hast du gefunden, was du gesucht hast,
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