1410 - Mallmanns Blut-Bräute
sich plötzlich um, ohne dass die Leiche von ihrer Schulter glitt.
Linus tauchte blitzschnell ab. Er warf sich einfach auf den glatten Boden und wünschte sich, mit ihm zu verschmelzen.
Das klappte natürlich nicht. Er sah es auch nicht als tragisch an, denn die Frau hatte ihn nicht entdeckt und ging mit ihrer Last weiter.
Immer geradeaus, bis sie den langen Steinsockel des Bahnsteigs verlassen musste, weil sie das Ende erreicht hatte.
Sie bog nach links ab, um in das Dorf zu gehen.
Linus wunderte sich nicht mehr. Er konzentrierte sich auf die Nebelgestalt und blieb ihr in einem guten Sicherheitsabstand auf den Fersen.
Noch immer wusste er nicht, welches Ziel sie sich ausgesucht hatte. Wenn sie so weiterging und nicht den Schlenker nach rechts machte, dann würde sie die Kirche erreichen, die ungefähr in gleicher Höhe mit dem Bahnhof lag.
Kirche!
Daran glaubte der Junge nicht. Aber ihm fiel etwas anderes ein, denn in der Nähe der Kirche lag auch der Friedhof. Und wo konnte man besser eine Leiche verstecken als dort?
Als Linus daran dachte, überlief ihn ein Schauer. Da fing er leicht an zu zittern. Er überlegte sogar, ob er die Verfolgung abbrechen sollte, aber er gab sich einen Ruck und fühlte sich wieder wie einer der Helden aus seinen Gruselgeschichten.
Bisher hatte ihn keiner aus dem Dorf gesehen. Das blieb auch weiterhin so. Wie auch der Nebel. Bei diesem Wetter ging niemand auf die Straße.
Die Frau mit der Leiche auf der Schulter änderte ihre Richtung nicht. Sie blieb auf dem direkten Weg, und je länger Linus ihr nachging, um so mehr geriet er darüber in Zweifel, ob diese Frau tatsächlich eine Leiche im Sack herumtrug oder ob er sich das nicht alles nur einbildete, weil er zu viele Gruselgeschichten gelesen hatte.
Allmählich schälte sich auch der nicht sehr hohe Kirchturm aus dem Grau des wallenden Nebels hervor. Man musste schon genau hinschauen, um ihn zu sehen, und die Frau mit dem Sack behielt die Strecke weiterhin bei. Wenn sie tatsächlich zur Kirche wollte, dann musste sie am Friedhof vorbei, denn er lag vor der Kirche.
Immer wieder schluckte Linus Hill seinen eigenen Speichel. Auch seine Handflächen waren feucht geworden. Das lag nicht an der Nebelnässe, sondern an seiner Aufgeregtheit, die auch dafür sorgte, dass sein Herz schnell schlug.
Die ersten Sträucher markierten seinen Weg. Der Junge schlich an ihnen vorbei. Er versuchte, die Entfernung zwischen der Frau und sich immer gleich zu halten und blieb plötzlich abrupt stehen, weil auch die Unbekannte nicht mehr weiterging.
Es hatte es nur ein wenig später gesehen und ging jetzt in die Hocke. Er wischte aus seiner oberen Gesichtshälfte die Nässe weg und starrte nach vorn.
Die Person mit dem Sack hatte den Friedhof erreicht. Trotz des Nebels war es ihr leichtgefallen, den Eingang zu finden, und vor ihm war sie stehen geblieben.
Es gab da ein Tor, das von zwei Säulen gehalten wurden. Sie waren schon uralt und bestanden aus verwitterten Steinen. Ein Künstler hatte den Tod als Figur hineingemeißelt, und früher hatten sich die Kinder immer davor gefürchtet. Jetzt sah Linus es gelassener.
Er wartete, denn auch die Frau ließ sich Zeit. Das Tor war nicht so einfach zu öffnen. Sie musste schon einige Male dagegen drücken, um es nach innen schieben zu können. Ansonsten war der Friedhof von dichtem Gestrüpp umgeben, das ein Durchkommen fast unmöglich machte. Man hätte es schon überspringen müssen.
Was tat sie? Überlegte sie es sich anders? Normalerweise hätte sie den Friedhof längst betreten müssen, aber sie wartete noch ab und schaute sich dabei um.
Linus merkte, wie er zitterte. Das lag nicht nur am kühlen Wetter, auch seine innere Nervosität trug dazu bei.
Wann ging sie?
Ja, jetzt. Sie hatte sich einen Ruck gegeben. Die Leiche auf ihrer Schulter schwankte, und mit einem langen Schritt betrat sie das Gelände des Friedhofs.
Linus wartete ab. Er wollte nichts überstürzen. In einem seiner Bücher hatte er mal gelesen, dass jemand bis zehn zählte, bevor er einen Entschluss fasste. Daran hielt auch er sich.
»… acht, neun, zehn …«
Sie war gegangen. Der Friedhof hatte die Frau verschluckt wie ein Loch. Der Junge wusste, dass die alten Grabsteine auf dem Gelände standen. Unter der Erde lagen Menschen, die vor Jahrhunderten gestorben waren, aber es gab auch den neueren Teil des Friedhofs.
Dort waren die Steine schlichter, längst nicht mehr so hoch und aufwendig, denn sie waren einfach zu
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