1444 - Saladins Leibwächter
Sekundenlang tat Purdy Prentiss nichts. Sie bewegte sich auch nicht.
Es war ihr wichtig, in den Spiegel zu schauen, dessen Fläche ja nicht nur sie zeigte, sondern auch die andere Erscheinung, die aussah wie ein künstliches Objekt, obwohl es sich bei ihr um einen Menschen handelte.
Um einen Mann. Kahl und nackt vom Kopf bis zu den Hüften, denn erst dort begann die lange Hose. Der mächtige Oberkörper mit den breiten Schultern und den Muskelpaketen war über und über mit Tätowierungen bedeckt. Keine realistischen Motive, das sah sie sehr schnell. Jemand hatte Striche und Windungen gezeichnet. Manche wirkten wie Schleifen, andere wiederum bildeten kleine Dächer, die in einem bestimmten Winkel zueinander standen.
Nicht nur der Körper war mit diesen Zeichen bedeckt, auch der blanke Kopf, auf dem nicht ein Haar wuchs. Ein kahler Schädel und ein Gesicht, das durch die Tätowierungen einen noch böseren Ausdruck zeigte. Ein Mund, der halb offen stand, als wollte er etwas mitteilen. Die Haltung des Fremden war sprungbereit, doch das hätte Purdy Prentiss nicht mal so gestört. Es gab etwas anderes, das für einen Schauer auf ihrer Haut sorgte.
In der linken Hand hielt der Glatzkopf ein Messer mit einer kurzen Klinge, die aussah wie eine gebogene Flamme, aber von einer hellen Farbe war und keiner dunklen oder roten.
Das Messer wies nicht auf Purdys Rücken. Die Klinge wies nach unten, und trotzdem fühlte sich die Frau bedroht. Sie machte sich auch keine Gedanken darüber, woher dieser Typ so plötzlich erschienen war. Dass er die Kontrollen am Eingang des Gerichtsgebäudes bei seinem Aussehen überwunden hatte, das wunderte sie schon.
Und jetzt war er bei ihr!
Purdy flog herum. Zugleich schnellte sie zur Seite, um der Gestalt kein Ziel mehr zu bieten. Sie schaute hin, wo der Glatzkopf stand – und sah ihn nicht mehr.
Er war verschwunden und hatte nichts hinterlassen, was auf ihn hingewiesen hätte…
***
Purdy Prentiss blieb auf der Stelle stehen und schluckte den Speichel. So einiges schoss ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, ob es den Mann gegeben hatte oder ob er nur eine Einbildung gewesen war.
Daran glaubte sie nicht so recht. Sie war nicht so überarbeitet, dass sie schon etwas sah, was es nicht gab. Es hatte diesen halb nackten Mann gegeben, dessen Körper über und über mit Tätowierungen bedeckt gewesen war. Sie hatte ihn nicht eintreten und auch nicht wieder verschwinden sehen. Aber er hatte für einige Sekunden hinter ihr gestanden.
Warum? Und warum gerade hier?
Zwei brennende Fragen, auf die Purdy keine Antworten fand. Zurück blieb bei ihr nur ein Unwohlsein, denn sie hatte sich durch die Erscheinung schon bedroht gefühlt.
Einen weiteren Zeugen hatte es nicht gegeben. Darüber war sie auch froh. Dieser Auftritt hatte sehr nach Gewalt gerochen. Dass es letztendlich dazu nicht gekommen war, wunderte sie ebenfalls.
Der Waschraum war nicht eben groß. Zwei Spiegel, darunter die beiden Waschbecken, der Durchgang zu dem Raum hin, wo sich zwei Toiletten befanden, und an den Wänden klebten diese Fliesen, die wohl ehemals weiß gewesen waren, seit längerem jedoch einen gelblichen Hauch angenommen hatten.
Es war ein Raum, in dem man sich nicht gerade wohl fühlen konnte. Aber die Staatsanwältin verließ ihn trotzdem nicht. Sie wollte auf Nummer Sicher gehen und durchsuchte die beiden Toilettenkabinen.
Auch dort war niemand zu sehen. Beinahe hätte sie über sich selbst gelacht, nur blieb ihr diese Reaktion im Hals stecken. Was sie gesehen hatte, das hatte sie gesehen. Ausreden ließ sie nicht gelten.
Dieser unheimlich und gewalttätig wirkende Mensch war bei ihr gewesen, und durch sein Messer hatte sie sich auch bedroht gefühlt.
Durch ein Fenster hatte er ebenfalls nicht verschwinden können, denn es gab keines. Also blieb nur eine Folgerung: Er war aus dem Nichts bei ihr erschienen.
Zum Lachen war das nicht. Purdy Prentiss wusste, dass nichts ohne Grund geschah, und sie kannte sich selbst und ihre Herkunft.
Möglicherweise lag der Grund in der Vergangenheit verborgen. Den Gedanken wischte sie rasch zur Seite. Sie wollte nicht vorgreifen.
Und doch war jemand da gewesen. Der Spiegel hatte nicht gelogen.
Sie schaute wieder in ihn hinein.
Jetzt sah sie nur ihr eigenes Ebenbild. Die rötlichen Haaren, zu einem Prinz-Eisenherz-Schnitt frisiert, warfen Wellen, als sie den Kopf über sich selbst schüttelte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Begegnung einstufen sollte, nur wenn sie
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