1474 - Der Schnitter
in ihrem Specknacken. »Mach dir keine Sorgen, meine Kleine. Es gibt andere Methoden, um sie loszuwerden. Wir beide werden uns um das normale Leben in Paris kümmern. Ich nehme dich bei mir auf, und du wirst erleben, wie sehr ich von den Menschen verehrt werde.«
»Was wollen sie von dir?«
»Ich bin ihre Ratgeberin und Beichtmutter zugleich. Wenn sie Sorgen und Probleme haben, kommen sie zu mir. Es geht oft um Liebe, aber noch öfter um Hass. Sie bitten mich dann, sie von ihren Feinden zu befreien, und dazu bin ich bereit.«
Nach einer Pause fragte Sandrine mit leiser Stimme: »Tötest du sie dann?«
»Wenn es sein muss, ja. Aber nicht ich töte sie. Ich sorge nur dafür, dass sie ihr Leben verlieren.«
»Wie denn?«
»Ich habe damals noch jemanden mitgebracht«, sagte sie mit leiser Stimme. »Er war schon tot, aber jetzt lebt er wieder. Er weiß, wie es ist, wenn man tot ist, und er weiß auch, dass er mir dankbar sein muss. Er ist ein guter Freund, der Mann mit der Sense, den ich den Schnitter genannt habe. Wer zu mir kommt, hat sich zuvor erkundigt und wenn nicht, weihe ich ihn ein.«
Sandrine überlegte. Sie konnte sich nicht viel unter dem Schnitter vorstellen, und so lag die nächste Frage praktisch in der Luft. »Lerne ich ihn auch kennen?«
»Bestimmt.«
»Aber er wird mich nicht töten?«
»Nein, das nicht. Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, denn du gehörst zu uns. Er tötet nur diejenigen, die er töten soll und die er von mir gesagt bekommt.«
»Ist das andere nicht leichter?«
Mama Rosa lachte. »Ja, schon, aber der Schnitter will das einfach. Du darfst nicht vergessen, woher er kommt. Wer schon mal im Reich der Toten gewesen ist, der braucht den Tod. Der kann ohne den Tod nicht leben.« Sie lachte selbst über diese Antwort. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Der Schnitter ist mein Kind, er ist mein Meisterwerk, und du wirst bald erleben, dass auch du ihn mögen wirst. Diejenigen, die ihn kennen, wissen, wie sie sich ihm gegenüber zu verhalten haben. Andere lernen ihn auch kennen, aber sie werden damit nichts mehr anfangen können, weil der Schnitter seinem Namen alle Ehre macht. Und er tötet gründlich, sehr gründlich sogar. Das wissen selbst Leute, die in der Unterwelt das Sagen haben. Einer der Bosse ist bereits zu mir gekommen und hat einen Mord bestellt.«
»Und?« Sandrine atmete schnell. »Ist er schon geschehen?«
»Ich denke, dass es in der vergangenen Nacht passierte, und jetzt stehen die Bullen wieder vor einem neuen Rätsel.«
»Kennen sie ihn denn nicht?«
»Ja und nein. Der Name ist der Polizei schon bekannt. Nur gesehen hat ihn bisher niemand. Und diejenigen, die ihn sahen, können nichts mehr sagen.«
»Ja, ich habe verstanden«, sagte Sandrine mit leiser Stimme und spürte die Kälte auf ihrem Rücken. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, denn sie hatte sich voll und ganz auf die Voodoo-Künste Mama Rosas verlassen.
Von einem Schnitter war nie die Rede gewesen, und genau das machte ihr Angst…
***
Der Anruf erreichte den Kommissar kurz nach Dienstbeginn. Jean Voltaire, der aufgrund seines Namens nur der Philosoph genannt wurde, hatte soeben den zweiten Schluck seines frisch gebrauten Kaffees getrunken, da wurde ihm der Mord gemeldet.
Eine sehr aufgeregte Stimme sprach zu ihm. »Es ist grauenhaft, aber leider wahr. Er hat wieder zugeschlagen.«
»Wen meinen Sie?«
»Den Schnitter!«
»Merde!«
»Das können Sie laut sagen.«
»Wo?«
»Am Bahnhof de Bercy. Hinter einer alten Halle und direkt über einem toten Gleis hängt er.«
»Ach, er hängt? Hat der Schnitter jetzt neue Methoden?«
»Nein, das nicht. Wenn Sie kommen, werden Sie nur die Hälfte von ihm an dem Signalmast hängen sehen.« Die Stimme des Anrufers wurde leiser und kratziger. »Die andere Hälfte liegt auf dem Boden. Man hat ihn geteilt, eben der Schnitter.«
»Gut, ich komme. Sperr alles ab.«
»Wir sind dabei.«
Jean Voltaire setzte sich erst mal hin. Er brauchte diese ruhigen Sekunden jetzt. Sein etwas verlebt aussehendes Gesicht zeigte plötzlich noch mehr Falten, und er hatte das Gefühl, dass sich die Haare seines Oberlippenbarts sträuben würden. Hinter seiner Stirn pochte es. Der Schnitter hatte wieder zugeschlagen. Es war das insgesamt fünfte Opfer, und wie es aussah, würde es nicht das letzte sein.
Eine Spur hatten sie nicht. Niemand wusste, wer sich dahinter verbarg, aber der Name Schnitter war wie aus dem Nichts aufgetaucht.
Voltaire wusste nicht, wie das
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