Lisa geht zum Teufel (German Edition)
Kapitel 1
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Wie ein Werbejingle in Endlosschleife hatte sich die Mutter aller rhetorischen Fragen in Lisas Gedächtnis eingenistet. Ein kleiner DJ im Ohr ließ ihn immer dann abspielen, wenn sie Annes Wellness- und Schönheitstempel betrat. Selbst auf dem Flyer stand der Spruch in fetten Buchstaben, wenngleich er sicherlich augenzwinkernd gemeint war. Dass ausgerechnet eine Norwegerin werbetechnisch die Gebrüder Grimm bemühte und somit tief in die Trickkiste der deutschen Romantik griff, um ihrer Münchner Kundschaft »Schönheit« zu verkaufen, war schon erstaunlich und offenbar sehr effektiv. Annes Laden brummte. Peelings, Kurpackungen und vitalisierende Massagen im Stundentakt. Von »Spieglein« konnte allerdings keine Rede sein. Monsterspiegel traf es eher. Das mittelalterlich anmutende Relikt nahm gleich die halbe Wand des Flurs ein. Ein riesiger Löwenkopf thronte über einem dunklen Massivholzrahmen, auf dem Blumen und Blätter eingeschnitzt waren. Ein echter Hingucker, der zu Annes geschmackvollem Mix aus antiken Möbeln und modernen Accessoires perfekt passte. Dummerweise ließ einem die räumliche Dominanz des Spiegels gar keine andere Wahl, als sich unentwegt darin zu begutachten, also den Ist-Zustand vor Annes Behandlung mit dem Soll-Zustand aus allerlei Frauenmagazinen, die auf einem Beistelltisch lagen, zu vergleichen. Geschickt! Verkaufstüchtig! Lisa imponierte Annes Konzept, auch wenn sie nicht an Märchen glaubte und an sich nicht der Typ war, den man mit der »Schneewittchenmasche« ködern konnte. Oder etwa doch? Ohne den hübsch aufgemachten Flyer, der ein halbes Jahr zuvor in ihrem Briefkasten gelegen hatte, säße sie nicht hier. Und es gab weitere Parallelen zu dem Mädchen »so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz«, stellte Lisa fest und meinte damit nicht nur ihren Teint, ihren Lippenstift oder die natürliche Farbe ihrer Haare, wenn sie nicht wie im Moment blondiert waren, was stets einen Tick jünger machte. Auch sie hatte ihren Traumprinzen erst nach langem Schlaf in einem gläsernen Sarg gefunden. Der Glaskasten, in dem sie aus lauter Frust über ihr Privatleben Tag und Nacht schuftete, war ja letztlich nichts anderes. Aufgewacht war sie vor zwei Wochen, und geweckt hatte sie Reiner, der Neuzugang im Verlag. Ein fähiger und noch dazu schnuckeliger Vertriebsmann, der es mit seinem sprühenden Charme schaffte, sogar die schlimmsten Ausrutscher ihrer Autoren im Buchhandel zu platzieren. Gut, er war fast zehn Jahre jünger, aber was machte das heutzutage schon? Rein optisch war er nicht zu jung. Seine grauen Schläfen verliehen ihm eine gewisse Reife. Apropos: War es normal, wenn ein achtundvierzigjähriger Mann einem Liebesbekundungen per SMS schrieb? Nein. Wohl eher gewöhnungsbedürftig – und wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte, täglich welche zu bekommen. Lisa konnte gar nicht anders, als sich die restliche Wartezeit mit der Lektüre seiner Kurznachrichten zu verkürzen, oder vielmehr zu versüßen. Ihr Handy war berufsbedingt sowieso immer nur einen Handgriff entfernt – für alle Fälle und natürlich für ihn .
»Der gestrige Abend hat mich verzaubert. Wir sollten öfter ins Ballett gehen. Kiss, Reiner.«
Sofort fing ihr Herz wieder an zu pochen, und sie überkam jenes wohlige Kribbeln, das sie zum ersten Mal mit sechzehn in der Magengegend verspürt hatte. Dass es einen mit achtundfünfzig noch dermaßen erwischen konnte!
»Sehen wir uns morgen? xxx, Reiner.«
Wie süß! Und mit diesem Mann würde sie morgen in den Urlaub fahren. Unglaublich! Lisa musste gleich tief Luft holen, bevor sie sich glückselig auf Annes Polstersessel rekelte. Für ihn musste Anne sie auf Vordermann bringen. Im Klartext: Stirnfalten wegpolieren, straffen, aufhellen, auffrischen – das volle Programm eben.
»Hallo, Lisa.« Anne trat aus ihrem Behandlungsraum und strahlte sie aus fjordblauen Augen an. Die Mittfünfzigerin, die mit Anne aus dem Behandlungszimmer kam, musterte Lisa hingegen etwas abfällig. War das eben ein Blick à la »Die hat’s aber nötig«? Mit blondierter Mähne, Botox-Lippen und hinter den Ohren angetackerter Haut sollte man sich so ein Lächeln besser verkneifen. Man sah es dann nämlich, das Maskenhafte in der Mimik. Umso leichter fiel es Lisa, der Möchtegern-Katzenberger ein lässiges und ziemlich cooles Lächeln zu schenken.
»Nächste Woche um fünf?«, fragte Anne
Weitere Kostenlose Bücher