1478 - Tiefsee-Schrecken
Holzhaus, das vor Wind und Wetter schützte. Irgendwelche Typen hatten es mal zerstört. Jetzt gab es nur noch einige Planken, die vor sich hin rotteten und teilweise vom Sand überdeckt waren.
Orson Keene ging dort, wo der Sand fest war. Trotzdem hinterließen seine Füße Abdrücke auf der feuchten Oberfläche. Er sah die angeschwemmten Muscheln, er entdeckte das Gerippe eines toten Vogels, und wenn er den Kopf nach links drehte, dann schäumte ihm die graue Brandung entgegen mit ihren weißen Schals aus Gischt.
Keene hatte seine Hände in den Taschen seiner wetterfesten Jacke vergraben. Er war in Gedanken versunken, denn wie so oft kam ihm die Vergangenheit in den Sinn und damit auch der Gedanke an seine Frau, die er nicht vergessen konnte.
Ein Schicksalsschlag hatte sie ihm von der Seite gerissen. Sie war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die Schuld daran trug ein Betrunkener, der sie auf dem Rad sitzend erwischt hatte.
Zwei Tage lang hatten die Ärzte noch um ihr Leben gekämpft, ohne Erfolg. Der Betrunkene lebte noch, auch wenn er jetzt mit einer besonderen Last herumlief, aber er hatte seine Strafe locker überstanden.
Orson Keene war ihm nie mehr begegnet. Wenn es mal passiert wäre, er hätte nicht gewusst, wie er sich dann verhalten hätte. Wahrscheinlich wäre er durchgedreht.
Egal, sein Leben ging weiter, und er hoffte, dass es noch mindestens zwanzig Jahre andauerte.
Keene merkte, dass er etwas zu weit nach links abgekommen war.
Das Wasser schäumte heran, erreichte sogar seine Stiefel und lief über.
Der Mann blieb stehen. Da sein Haar im Vergleich zu seinem grauen Bart nicht besonders dicht war, trug er eine blaue Wollmütze auf dem Kopf. Er drückte sie fester und drehte nach links, um einen Blick über die See zu werfen.
Die Fähre war nicht mehr zu sehen. Er sah nur die wogende, schaumgekrönte Wellenfläche und überlegte, ob er einen Blick durch sein Fernglas werfen sollte.
Keene tat es nicht und ließ es vor seiner Brust hängen. Noch war alles okay. Es deutete sich keine Veränderung an, und auch das Wolkenbild war gleich geblieben.
Nach einem Schulterzucken setzte er seinen Weg fort und stolperte drei Schritte später über einen harten Gegenstand, den er bisher nicht gesehen hatte.
Orson Keene blieb stehen.
Er wollte sehen, über was er gestolpert war, und schaute nach unten auf seine Füße.
Dort lag etwas!
Er wollte es nicht glauben, schaute noch mal hin und musste feststellen, dass er sich nicht geirrt hatte.
Orson Keene war über einen Totenschädel gestolpert!
***
Schlagartig wich das Blut aus seinem Kopf!
Keene war kein ängstlicher Mensch, beileibe nicht, aber diesen Totenschädel zu finden hatte ihn schon überrascht. Er dachte daran, dass das Meer schon vieles angeschwemmt hatte, aber ein Knochenschädel war noch nicht darunter gewesen.
In seiner Kehle war es eng geworden. Es lag daran, dass es der Schädel eines Menschen war. Bei einem Tier, besonders bei einem Vogel, hätten die Dinge anders gelegen, doch einen menschlichen Schädel zu finden, das war schon etwas anderes.
Orson Keene glaubte nicht daran, dass jemand das Fundstück hierher an den Strand gebracht und abgelegt hatte. Er ging davon aus, dass der Schädel angeschwemmt worden war. Das Meer hatte ihn nicht mehr haben wollen. Aber warum und wieso hatte er im Wasser gelegen? Wem gehörte dieser blank polierte Kopf?
Diese Gedanken machte Keene sich, als er den ersten Schrecken überwunden hatte. Er dachte über den Schädel nach und auch über den Weg, den er genommen haben könnte. Wahrscheinlich hatte er auf dem Meeresgrund gelegen und Strömungen und Sturm hatten ihn erfasst und vom Boden hoch geholt, um ihn dann an Land zu spülen.
Aber wem hatte der Schädel gehört?
Keene stolperte über diese Frage. Er hob den Kopf, um über das Wasser zu schauen. Es gab ihm keine Antwort, und so flüsterte er:
»Woher kommst du, verdammt? Wer bist du mal gewesen?«
Es gab ihm niemand Antwort auf diese Frage. So blieb er weiterhin mit seinen Gedanken allein, die sich allmählich formierten und in eine bestimmte Richtung lenkten.
Gab es nur diesen Schädel oder gehörte noch etwas dazu?
Diese Frage beschäftigte ihn schon. Normalerweise gehörte zu einem Kopf ein Körper, auch wenn beide nur aus Knochen bestanden.
Nicht in diesem Fall. Da waren beide getrennt worden, und er ging sogar davon aus, dass man den Kopf gewaltsam vom Körper abgehackt hatte.
Abgehackt!
Das Wort gefiel ihm nicht, aber
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