156 - Auf dem roten Planeten
Sein Blick fiel auf eine etwa handtellergroße, in die Rinde eingelassene Steinscheibe.
Mit verblasster, ehemals grüner Farbe war ein Symbol in sie eingraviert: ein Baum zwischen den Schenkeln eines Vs. Das gleiche Zeichen hatte Drax schon auf einem Amulett entdeckt, das der Anführer der Waldleute trug, der Schamane.
Vermutlich das Zeichen dieses rätselhaften Baumsprecher-Ordens. Maya hatte davon erzählt.
Stufe um Stufe nahm der Mann aus der Vergangenheit, drei oder vier Meter trennten ihn schon vom Boden.
»Da hinauf!«, rief eine Stimme. Drax blickte zum Fuß des Baumes hinab. Der Mann namens Windtänzer forderte Chandra auf, endlich den Stamm hinauf zu steigen. »Geh schon, Städterin!«
Die Frau machte ein trotziges Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich denke nicht daran.«
Der Baumsprecher musterte sie schweigend. Selbst von hier oben und trotz des fahlen Dämmerlichtes konnte Matt Drax das Leuchten in seinen dunkelgrünen Augen sehen. »Gut«, sagte Windtänzer schließlich. »Dann eben nicht. Dann geh halt in den Wald und verhungere, oder lass dich von deinesgleichen einfangen und wegen Verrats vor Gericht stellen.«
»Was für eine Gemeinheit!« Chandra fauchte den Baumsprecher an. »Warum habe ich mich bloß auf so etwas eingelassen…?«
»Wer sollte das wissen, wenn nicht du?« Windtänzer drängte sich an ihr vorbei und kletterte in den Baum. »Die Häscher jedenfalls sind längst unterwegs.«
Der zweite Junge folgte ihm. Matt hatte seinen Namen zwar gehört, aber wieder vergessen. Überhaupt besaß dieser blutjunge, blauhaarige Bursche die Gabe, so unauffällig zu wirken, dass man seine Anwesenheit schier vergaß.
Drax' Blick traf sich mit dem Chandras. Grimmig starrte sie zu ihm hinauf. Du hast mir das eingebrockt, sagten ihre Augen.
»Kommen Sie schon, Chandra!« Matthew schlug einen versöhnlichen Tonfall an. »Sie haben keine Chance allein in dieser Wildnis!«
Chandra Tsuyoshi stieß ein Wort aus, das Matt nicht verstand. Sie tastete nach dem ersten Holm, aber auch sie – nur drei Zentimeter größer als Matt – kam nicht richtig heran.
Der blauhaarige Junge fasste sie an den Hüften und hob sie hoch, als wäre sie nur ein Zweig. An seinem Handgelenk erkannte Matthew Drax in diesem Augenblick den Minicomputer Chandras. Klar, dass sie ihr den abgenommen hatten…
»Was fällt dir ein, Bursche…?«, schimpfte Chandra. Doch ehe sie sich versah, hatte der Junge sie mit einem Tau an sich gebunden. Das andere Ende warf er seinem Anführer zu, der es sich um die Hüfte schlang. So gesichert begann Matts ehemalige Aufpasserin mit dem Aufstieg.
Das Schimpfen verging ihr bald. Körperliche Anstrengung schien sie nicht gewohnt zu sein. Wut und Mühe hatten die Glätte und Ausdruckslosigkeit aus ihrem viel zu schönen Gesicht vertrieben. So fand Matt Drax es richtiggehend anziehend.
Übrigens trug auch sie inzwischen andere Kleider – einen Ganzkörperanzug von der gleichen erdgrünen Farbe wie seiner und mit dem gleichen warmen Rostrot des Hüftgurts, der Jackenschulterstücke und des Kragens. Die Waldfrauen hatten sie noch vor der ersten Nacht im Wald umgezogen. Drax zweifelte nicht daran, dass ihr Anzug über die gleichen Funktionen wie seiner verfügte. Zusätzlichen Sauerstoff benötigte sie natürlich nicht.
Irgendjemand musste den Hightechanzug für Chandra organisiert haben. Und folgte daraus nicht, dass man von Anfang an geplant hatte, auch sie zu entführen?
Knapp unter der Baumkrone blickte Matt noch einmal nach unten. Im Halbdunkel verschwammen Unterholz, Büsche, Farn und junge Bäume zu grünlichgrauem Dunst. Dabei war es früher Nachmittag und nicht einmal bewölkt. Doch das Licht der fernen Sonne drang nur spärlich durch die dichten Baumkronen.
Weiter ging es. Mit jedem Meter, den Matt Drax nach oben kletterte, wurde es ein wenig heller. Etwas zirpte ganz in seiner Nähe. Er verharrte, spähte aus schmalen Augen ins Geäst über und hinter sich. Erst als er schon weiterklettern wollte, entdeckte er das Tier. In Augenhöhe und Reichweite hockte es auf einem Ast in Stammnähe.
Der Mann aus der Vergangenheit hielt die Luft an. Das Tier war mindestens so lang wie sein Unterarm, jedoch wesentlich dicker. Es hatte einen schwarz schillernden Panzer, drei pelzige Beinpaare, mächtige Kauscheren und gebogene Fühler: ein Mammutkäfer…
***
Jarro Fachhid Gonzales nahm kleine Prisen Fischfutter aus der Dose und versenkte sie andächtig im Wasser. Er hatte
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