1567 - Die Auserwählten
Und wenn du dann noch immer stur bleibst, dann hast du gewonnen.
Vielleicht hilft es dir zu wissen, daß es vielen Kindern so geht wie dir. Die, die am begabtesten sind, fürchten am meisten den Verlust ihrer Freiheit."
Nun weinte Hagea aus Kummer. Sie wußte, daß ihre Mutter fast eine Schlichterin geworden wäre.
Vor vielen Jahren, mit so vielen Hoffnungen und mit so viel Enttäuschung, als sie an ihrem großen Ziel gescheitert war. Nein, Bluda konnte man wirklich nicht mehr umstimmen. Wenn sie es doch nur mit Vater zu tun gehabt hätte, aber Aerton war keiner, der in ihrer Lebensgemeinschaft die Entscheidungen allein traf. „Ach Hagea!"
Bluda setzte sich zu ihr auf die Bank. Einen Arm legte die Linguidin um ihre Schultern, mit einem Zipfel ihres Ärmels trocknete sie sanft Hageas Tränen. „Du mußt nicht denken, Kleine, daß ich dich nicht liebe. Ich liebe dich mehr als fast alles im Universum."
„Das glaube ich nicht", erwiderte sie mit gesenktem Kopf. „Du hast mir gesagt, alles im Universum sei gleich viel wert."
„So sprechen die Meister. Aber wir Linguiden sind der reinen Lehre nicht immer gewachsen. Wir sind nicht perfekt, wir begehen Fehler über Fehler. Deshalb brauchen wir ja die Schlichter und Friedensstifter. Sie sind die Klammern, die unser Volk zusammenhalten. Du könntest einmal eine solche Klammer werden, Hagea. Ich spüre das mit jeder Faser. Dein Talent ist so groß, so stark ..."
So mächtig.
Hagea erwartete fast, aus dem Mund ihrer Mutter diese Worte zu hören, doch Bluda hielt rechtzeitig inne. Sie war zu klug, sich zu einer Dummheit hinreißen zu lassen. Macht war nichts, was für Linguiden zählte. „Du bist eine Persönlichkeit", sagte Bluda statt dessen. „Niemand kann dich zwingen, deinem Volk zu dienen. Aber wenn du das Talent hast, haben wir ein Anrecht auf dich. So ist es immer unsere Philosophie gewesen."
„Und wenn ich mich trotzdem verweigere?"
„Dann wird dir niemand böse sein."
„Auch du nicht?" Hagea schaute ins Gesicht ihrer Mutter und sah die Qual, die das Gespräch aufgewühlt hatte. „Nein. Wie auch immer deine Entscheidung ausfällt, meine ganze Liebe gehört dir. Aber entscheide nicht, ohne zu wissen, worüber du entscheidest. Das nämlich ist noch lange nicht der Fall, glaube mir!"
„Du hast so viel geredet."
„Ich habe nie den Kern getroffen."
Hagea war nicht überzeugt. Doch sie wußte jetzt, daß sie schon Bluda zuliebe in diese Sprachschule gehen mußte. Sie sah jetzt, wie wichtig dieser eine Tag ihrer Mutter war: wichtiger als das eigene Leben. Hagea hatte ihr immer vertraut. Und Bluda ihrerseits wußte, daß das von diesem Tag an nie wieder so der Fall sein würde. Trotzdem hatte sie ihre Tochter gezwungen. „Ich werde gehen", murmelte Hagea.
Bluda atmete auf. „Du sollst ja nur begreifen, was du tust. Bury Comansor wird es dir erklären. Er ist ein kluger Mann."
Hagea sah, daß ihre Mutter etwas verheimlichte, was ihr geradezu unter den Nägeln brannte.
Aber sie fragte nicht mehr nach.
*
Hagea war mit Abstand die Dickste der Familie.
Manchmal kämpfte sie tagelang mit unwiderstehlichem Freßtrieb - wobei sie noch jedesmal verloren hatte. In solchen Stunden der Niederlage ging sie oft in den Fruchtwald an den Hügeln.
Sie stopfte sich dann voll, bis der Magen zu schmerzen anfing, und wenn sie mit schmierigem, verklebtem Gesichtshaar wiederkam, wußten alle Bescheid. Solche Augenblicke hatte sie oft erlebt.
Mutters Lachen, Vaters Hand, die zärtlich über ihren Kopf strich, dazu Neidos verständnislose Blicke.
Auch war sie in der Familie die einzige, die wirklich Sinn für Humor hatte. Hagea konnte gespannte Situationen jederzeit mit einem Scherz entkrampfen. Trotz ihrer jungen Jahre hatte sie das Talent zu einer beliebig einsetzbaren Tugend entwickelt.
Acht Tage ...
Die Wartezeit verkürzte sie mit um so mehr Scherzen, als ihre innerliche Panik wuchs.
Bluda und Vater Aerton hatten helle Freude an ihr, auch wenn Bluda sicher ahnte, was wirklich vorging.
Nur ihre Schwester Neido ging Hagea aus dem Weg. Sie ertrug die lärmende Fröhlichkeit nicht.
Neido war so spindeldürr, wie Hagea dick war. Mit zwölf Jahren gehörte sie schon zu den besten Erntearbeiterinnen, doch ihre wahren Fähigkeiten lagen auf technischem Gebiet.
Wenige Kilometer von der Inselgruppe Dauho-Mano entfernt stand auf einem kleinen Atoll die Techno-Schule, die sie besuchte. Dort konnte man alles über Raumschiffe, Computer und Organisation
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