1571 - Der fliegende Tod
hatte das Kind. »Ich gehe schon mal, John.«
»Ja, ich komme mit ihr nach.«
Mary sah nicht so aus, als wollte sie aufgeben. Sie erinnerte mich an eine Raubkatze, die auf der Lauer lag, um den richtigen Zeitpunkt für einen Angriff abzuwarten. Breitbeinig stand sie vor mir. Sie war nicht eben eine schlanke Person. Ein Zusammenprall mit ihr konnte mich schon aus dem Gleichgewicht bringen.
Dann rannte sie einfach los. Es war nur eine Ministrecke, die sie zurücklegen musste, aber die überwand sie schnell.
Ich wollte nicht ihre Fingernägel in meinem Gesicht spüren und wartete den richtigen Zeitpunkt ab. Mit einer geschmeidigen Bewegung wich ich aus und stellte ihr ein Bein.
Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie stolperte über meinen Fuß, fiel nach vorn und prallte gegen die Wand.
Ob sie ihr Gesicht noch hatte schützen können, war mir verborgen geblieben. Ich hörte sie nur wimmern und sah, dass sie langsam in die Knie sackte.
Es war meine Sekunde. Handschellen klickten, als ihre Arme von mir auf den Rücken gedreht worden waren. Erst dann zog ich sie hoch.
Ich drehte sie herum und sah, dass sie doch etwas abgekriegt hatte.
Eine Platzwunde an der Stirn sorgte dafür, dass ein dünner Blutstreifen über ihr Gesicht rann.
»Das hätten Sie sich sparen können, Mary. Sie wissen doch, dass Sie und der Doktor verloren haben.«
»Nein, das haben wir nicht. Wir sind keine Verlierer. Es ist alles vorbereitet.«
»Ja, ich weiß. Aber manchmal genügt auch eine gute Vorbereitung nicht.« Sie spie aus.
»Dann wollen wir mal diese ungastliche Stätte verlassen. Ich denke, dass Sie mir noch viel zu erzählen haben.«
»Nichts bekommen Sie zu hören, gar nichts. Der Fluch des fliegenden Tods wird Sie erwischen und Ihnen die Tür zum Totenreich öffnen. Das schwöre ich Ihnen.«
»Ja, schon gut.«
Ich stieß sie vor mir her. Die kleine Kapelle war für mich nicht mehr wichtig. Eigentlich zählte nur, dass wir das Kind befreit hatten. So hatte mein Kurztrip nach Deutschland letztendlich noch einen Sinn gehabt.
Natürlich hatten auch wir es nicht geschafft, bis an die Kapelle heranzufahren. Wir hatten den Opel in der Nähe des schon parkenden Smart abgestellt, und dahin wollte ich auch so schnell wie möglich.
Die Krankenschwester ging vor mir her. Mit den auf dem Rücken gefesselten Händen war es für sie gar nicht so einfach, auf dem unebenen Boden das Gleichgewicht zu bewahren.
Sehen konnte ich nicht viel. Das Buschwerk wuchs einfach zu hoch, aber wir nahmen ungefähr den gleichen Weg, den wir auch hergekommen waren.
Ein schwaches Lächeln glitt über meine Lippen, als ich die Dächer der beiden Autos sah.
Harry Stahl hatte sich bestimmt in seinen Opel zurückgezogen, um auf das Kind zu achten.
Ich ging schneller und trieb die Krankenschwester vor mir her, die noch immer Gift und Galle spie. Zum Glück so leise, dass es mich nicht mehr störte.
Die restlichen Meter schritten wir durch normales Gras. Inzwischen hatte sich die Luft verändert. Sie war kühler geworden. Der Himmel hatte eine andere Farbe angenommen. Ein Grau mit einem violetten Schimmer.
Wo steckte Harry? Saß er bereits in seinem Wagen?
Er selbst hätte mich längst sehen müssen, aber er meldete sich nicht, und mein Misstrauen wuchs.
Bis ich sah, was passiert war.
Der Riesenvogel war da. Er hatte sich versteckt gehabt und flach auf dem Boden gelegen. Jetzt richtete er sich auf, und ich ging keinen Schritt mehr weiter.
Mary aber konnte das leise Lachen nicht unterdrücken…
***
Den fliegenden Tod kannte ich bisher nur aus Erzählungen. Erst jetzt sah ich, dass er ein wahres Ungetüm war. Mehr als doppelt so groß wie ein Adler, dieser Vergleich traf schon zu. Er war eine mächtige Gestalt mit einem langen Schnabel und kleinen bösen Augen.
Harry Stahl hatte ebenfalls alles gesehen. Nur saß er bereits in seinem Opel. Er sprach mit mir durch das offene Seitenfester.
»Ich konnte nichts tun, John. Er war plötzlich da.«
»Geht schon klar. Was ist mit dem Kind?«
»Die Kleine ist bei mir.«
»Gut.«
»Nicht mehr lange, nicht mehr lange!«, kreischte Mary. »Er wird euch zerhacken. Er wird euch mit seinen Krallen in Stücke reißen!«
Ich glaubte ihr jedes Wort. Dieser Vogel war einfach nur böse. Vielleicht nicht dem Kind gegenüber, aber anderen Menschen, die er als Feinde ansah.
Ich wollte ihn auf keinen Fall als Angreifer erleben, denn einer Masse wie ihm auszuweichen würde nicht leicht sein.
Und deshalb wollte ich
Weitere Kostenlose Bücher