1571 - Der fliegende Tod
und vor dem Eingang wucherte das Unkraut hüfthoch.
Eine Tür gab es nicht, und so konnte Mary mit ihrer leichten Last die Kapelle durch die Öffnung betreten und gelangte in einen Bereich, der von der Natur ebenfalls nicht verschont worden war.
Auf dem Boden lag ein dicker Teppich aus Gras. Die Wände innen waren ebenfalls mit einem grünen Überzug bedeckt. Durch die Fenster sickerte schummriges Licht.
In der Mitte stand der kleine Altar. Auch er war von einer grünen Schicht bedeckt. Diese Platte war das Ziel der Krankenschwester.
Sie trug nicht mehr ihre Tracht. Mary hatte sich für eine Jeans entschieden und als Oberteil ein dunkles Kittelhemd, das ihr bis über die Hüften reichte.
Behutsam legte sie das Baby nieder. Sie ließ es in den Tüchern, damit es nicht fror, doch das kleine Gesichtchen lag frei, und das zeigte einen friedlichen Ausdruck.
Mary lächelte. Sie war zufrieden, es bis hierher geschafft zu haben. Sie legte den Kopf in den Nacken, um zum Dach mit seiner Lücke hinaufzuschauen. Sie sah den blauen Himmel und auch einen hellen Wolkenstreifen.
Noch war die Zeit nicht reif, aber sie würde es werden, denn das Tor hatte sich bereits geöffnet. Der Vogel war da und endlich auch wieder Suleika. Tausende von Jahren hatten sie warten müssen, bis der Zeitpunkt eingetreten war. Und so hatten sich die alten Weissagungen erfüllt, dass die Zeit des Sonnenkinds erneut anbrach.
Mary nickte dem Baby zu. »Man wird dich holen. Du wirst von einem fliegenden Gott behütet. Er hat geahnt, dass du zurückkommen würdest. Er wartet auf dich. Die alten Gesetze sind nicht verschwunden. Sie waren nur verborgen. Nun aber sind sie wieder frei.«
Mary strich mit ihren Händen sanft über die Wangen der Kleinen, bevor sie sich auf einen Stein setzte und abwartete.
Sie wusste genau, was sie zu tun hatte, denn auch sie war eine Dienerin des Sonnenvogels. Die Sonne, er und das Kind, sie alle mussten verehrt werden.
Wieder blickte sie durch das Loch in der Decke. Noch war der Himmel leer, aber der Vogel wusste genau, wo er zu suchen hatte, um sie zu finden.
Und dann waren die alten Zeiten wieder zurück…
***
Jeder von uns wusste, dass es falsch gewesen wäre, wenn wir länger am See geblieben wären. Jetzt zählte nur noch die Stadt München und dort ein bestimmter Ort.
Dagmar Hansen, Harry Stahl und ich wussten zwar nicht sehr viel, aber aus dem Wenigen hatten wir uns einen Reim machen können. Wir waren der Meinung, dass dem Arzt nicht zu trauen war, und wir würden ihm einige Fragen stellen.
Wir waren mit Frank Herzog gefahren, der die Strecke in einem Rekordtempo geschafft hatte.
Einen genauen Plan hatten wir nicht. Es war für uns zunächst wichtig, dass wir an Fatima Herzog herankamen, was selbst ihr Mann nicht geschafft hatte, was uns schon wunderte.
Auf dem Parkplatz fanden wir einen freien Platz ganz in der Nähe des Eingangs.
Als wir ausstiegen und ich einen Blick in Frank Herzogs Gesicht warf, da sah ich darin die Unsicherheit. In sie mischte sich Angst. Er bewegte seine Lippen, ohne etwas zu sagen, und er kam mir vor, als würde er am liebsten an die Hand genommen werden.
Wir hatten ihn schon auf der Fahrt gefragt, in welchem Zimmer seine Frau lag. Er hatte es nicht gewusst, und auch beim Nachfragen konnte er keine Antwort geben.
»Ich war ja nicht da. Klaus hat mich nicht zu ihr gelassen. Ich konnte nichts tun.«
»Ist schon okay«, sagte Harry Stahl. Er betrat noch vor uns allen die Klinik, deren Eingangsbereich sehr hell war, weil hier unten fast alles verglast war.
Die Anmeldung nahm einen breiten Raum ein. Harry und Dagmar steuerten sie gemeinsam an, während Frank Herzog und ich uns zurückhielten.
Wir wollten da nicht zu kompakt auftreten.
Frank stand dicht bei mir. Er gab mit leiser Stimme zu, dass er Angst hatte, und er sprach davon, wie leicht es gewesen war, ihn aus dem Spiel zu nehmen.
»Das kann man wohl sagen.«
»Dann habe ich mich in meinem Freund getäuscht. Oder was meinen Sie, John?«
»Ich denke schon.«
»Er hat mich benutzt. Es ist in Wirklichkeit ein ganz anderer Mensch. Er hat mir nur etwas vorgespielt. All die Jahre…«
»Wie lange kennen Sie ihn denn schon?«
»Das weiß ich nicht so genau. Es können…«, er winkte ab. »Ich will nicht darüber sprechen. Ich bin so wahnsinnig enttäuscht. Ich fühle mich einfach nur benutzt.«
Ich blieb am Ball, weil ich sah, dass Dagmar und Harry noch an der Anmeldung standen.
»Hat Klaus Jäger nie etwas Privates
Weitere Kostenlose Bücher