158 - Orguudoos Brut
doch da war nur noch Staub, und er brannte wie Feuer in den Lungen.
Onnar lief um sein Leben. Als er nicht mehr laufen konnte, kroch er, und als auch das nicht mehr ging, zog er sich Hand über Hand an den rostigen Schienensträngen vorwärts. Er musste sich retten – um seiner Familie willen.
Nach einer Ewigkeit aus Angst und Atemnot hörte der Steinschlag auf. Die plötzliche Stille dröhnte lauter in den Ohren als das Donnern und Krachen zuvor, und sie brachte den Mann dazu, endlich anzuhalten. Hustend sah er sich um. Was war mit seinen Brüdern? Gab es noch Hoffnung für sie?
Onnar konnte nichts sehen in der Finsternis, und nichts hören außer dem eigenen hämmernden Herzschlag. Also zog er sich auf die Beine und stolperte los, zurück zur Barrikade. Sein Atem ging rasselnd, seine Augen schmerzten. Hin und wieder klickerten Steinchen an den Felsbrocken herunter, die Onnars Weg versperrten – aber immerhin gab es noch einen Weg! Da war auch plötzlich ein kalter Hauch im Stollen, als ob von irgendwo Frischluft käme!
»Rrodan! Thurr!« Onnars Stimme war nur ein Krächzen. Er räusperte sich, spuckte grauen Schleim und versuchte es noch mal. »Ennark! Maan! Gerro! Könnt ihr mich hören?«
Dann sah er es. Oben, auf dem verschütteten Durchgang der Barrikade. Ein kleines Licht tanzte dort herum, wie der Schein einer sterbenden Fackel. Onnars Herz machte einen Satz, als jemand aus dem Tunnel dahinter seinen Namen rief – so schwach, so verlöschend, als hätte er nur noch wenige Minuten zu leben. Der Tongidd rannte zur Barrikade.
»Luuja!«, brüllte er verzweifelt über die Schulter zurück.
»Luuja!«
Dann wischte er sich die Tränen fort und griff nach dem ersten Stein.
***
Nachmittags, in Lagtai
»Also doch! Diese Mörderbande hält hier irgendwo Kinder versteckt!«, sagte Aruula grimmig, während sie quer durchs Dorf auf den Baum zu lief. Die kleine, dick vermummte Gestalt darunter war in der beginnenden Dämmerung nicht gut zu erkennen. Sie trug eine Fellkapuze, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Unmöglich zu sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.
Was haben die Saikhan mit diesem Kind gemacht?, fragte sich die Barbarin. Je näher sie dem Baum kam, desto stärker drang das bitterliche Schluchzen an ihr Ohr. Aruula konnte den Schmerz spüren, der darin lag. Er war tief empfunden und groß.
Ich werde es retten! Aruula nickte entschlossen. Sie verlangsamte ihre Schritte, um das weinende Kind nicht zu erschrecken. Meinem Sohn konnte ich nicht helfen, Maddrax konnte ich nicht helfen. Aber dieses Leben, dieses eine, bleibt unbeschadet! Dafür will ich sorgen!
Es ging alles so schnell. Die kleine Gestalt gab einen herzzerreißenden Jammerlaut von sich und tapste los.
Anscheinend wollte sie zum Baumstamm, um dann irgendwie an den Leichnam heran zu kommen.
»Neetu! Neetu!«, rief Aruula erschrocken und winkte heftig nach rechts, damit das Kind zurück trat. Um ein Haar wäre es in die Grube gefallen!
Sein Weinen hörte auf, die kleinen Hände sanken vom Gesicht – da fühlte sich die Barbarin hart zur Seite gestoßen.
Suresh rannte an ihr vorbei wie ein wütender Dämon, schwang ihr blitzendes Krummschwert und schleuderte es mit Macht, noch ehe Aruula wieder auf den Beinen war.
Zum Glück war das Kind reaktionsschnell. Es wich aus, und die Waffe verfehlte ihr Ziel.
»Shak'machuu!«, zischte die saikhana. Es klang wie ein Fluch, und sie lief weiter, die Hände wie Krallen vorgestreckt.
Zorn kochte in Aruula hoch. Sie stürmte hinter Suresh her, packte sie an den Haaren und riss sie herum. Aruula legte alle Kraft in einen einzigen Schlag. Er traf die Frau am Kinn und raubte ihr die Besinnung, noch ehe sie den Boden berührte.
Schwer atmend sah sich Aruula um. Das Kind rannte davon – hinaus in die Steppe, wo es nur Kälte und Dunkelheit gab und ein Mensch ohne rettendes Feuer erfror. Sein Pelzmäntelchen flappte im eisigen Wind, und die dicke Kapuze tanzte bei jedem Schritt auf und ab.
Aruula folgte ihm. Sie erwog einen Moment, Sureshs Krummschwert mitzunehmen, doch dann verwarf sie den Gedanken. Es könnte nicht lange dauern, ein Kind einzuholen, und so nahe am Dorf hielten sich keine gefährlichen Tiere auf.
Außerdem würde es die Kleine nur erschrecken. Aruula hatte für sich entschieden, dass es ein Mädchen war, hinter dem sie her lief.
Wo mag sie nur versteckt gewesen sein? Die Barbarin rief sich das Dorf vor Augen und ging es durch, Haus für Haus.
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