158 - Orguudoos Brut
waren es zugeschneite Ruinen, da konnte niemand überleben. Den Nukko-Stall, die Scheune und Rapushniks Quartier hatte Aruula von innen gesehen. Dort gab es nirgends einen Hinweis auf gefangene Kinder. Es blieb also nur der Stall der Jingiis.
Deshalb wollte Jem'shiin nicht, dass ich ihn betrete! Aruula fuhr sich übers Gesicht, im nutzlosen Versuch, die Flocken loszuwerden, die der auffrischende Wind herantrug. Sie halten bei den Jingiis Kinder versteckt! Mindestens zwei – das kleine Mädchen hier und das eine, das gestorben ist. Vielleicht sogar noch mehr. Aber aus welchem Grund? Was haben die Saikhan mit ihnen vor? Werden sie für ein Opferritual benutzt? Sollen sie als Sklaven verkauft werden?
Die Barbarin fand keine Antwort. Mitleidig blickte sie auf das Pelzmäntelchen, das noch immer mit flappenden Schößen vor ihr her lief; ein ganzes Stück voraus und unvermindert zügig. Was musste die Kleine verängstigt sein, dass sie in die menschenleere Steppe floh und sich kein einziges Mal umdrehte!
Felsen kamen in Sicht, und ein Meer aus Schneewehen. Sie waren überfroren und glitzerten schwach im letzten Schein des Tages. Es wurde merklich kälter.
Aruula begann sich zu wundern, dass das Kind noch immer keine Ermüdung zeigte. Sie warf einen Blick zurück auf das Dorf, das allmählich mit der Dämmerung verschmolz.
Niemand war ihr gefolgt, und so begann sie zu rufen.
»Kenfa! Waitaa-me!« Doch das Kind wartete nicht. Es zeigte überhaupt keine Reaktion, lief nur unbeirrt weiter. Seine Stiefelchen hinterließen tiefe Abdrücke im Schnee.
Plötzlich kreuzte eine Spur den Weg – Pfotenspuren, die Richtung Westen liefen. Die Fährte war frisch; Aruula folgte ihr mit den Augen und erschrak: Zwischen verschneiten Felsen, kaum erkennbar in der Winterlandschaft, stand eine große weiße Wölfin. Reglos starrte sie herüber.
»Ich hätte das Schwert nicht zurück lassen dürfen!«, haderte die Barbarin mit sich selbst. Doch schon auf dem Grat der nächsten Bodenwelle entspannte sich ihre Miene und Aruula begann zu lächeln. Ein Stück vor ihr ragten die Umrisse einer gewaltigen Statue auf! Es war der Wintergott, an dem die Androne im gestrigen Sturm zerschellt war. Irgendwo dort lag Aruulas verlorener Bihänder – und das Kind lief genau in diese Richtung.
Ich werde diesem Gott ein Dankopfer bringen, dachte die Barbarin. Er hat die Kleine hierher geführt, damit wir beide gerettet werden.
Aruula horchte auf. In der Ferne wieherten Jingiis! Man konnte sie sehen, eine Reihe dunkler Schatten, die lang gestreckt durch den Schnee preschten. Aruula hörte das Johlen und die Pfiffe der Saikhan, mit denen sie ihre Tiere anfeuerten, um noch das Letzte aus ihnen heraus zu holen. Sie waren auf dem Rückweg ins Dorf. Nicht mehr lange also, bis die Männer erfuhren, was geschehen war. Ganz sicher würden sie sich gleich an die Verfolgung machen.
Es wird Zeit!, dachte Aruula. Ich muss mein Schwert finden und die Kleine in ein sicheres Versteck bringen. Vielleicht gibt es eine Höhle in den Hügeln dort hinter der Statue!
Ein Mal noch drehte sich die Barbarin nach den Reitern um.
Als sie wieder nach vorne blickte, war das Kind verschwunden.
***
Kurz zuvor, in Lagtai
»Dieses blöde Vieh! Schlachten sollte man es!«, brummte Jem'shiin vor sich hin, während er auf die Scheune zu stapfte, in der er Aruula vermutete. Der shassun war noch immer beleidigt, weil sich sein Kamshaa von ihr hatte reiten lassen. Er fand es inzwischen auch nicht mehr komisch, dass die Barbarin das Kamel so ahnungslos wie freundlich mit Hirnloser Stinkzottel ansprach. Rapushnik war ein hirnloser Stinkzottel, wenn er nicht wusste, zu wem er gehörte!
Irgendwo in der Ferne wieherten die heimkehrenden Jingiis.
Jem'shiin nickte düster. Keine Frage – die waren ein anderes Kaliber als sein treuloser Riesenstinker! Die klugen, leichtfüßigen Tiere gehorchten nur ihrem Herrn, niemandem sonst, und sie waren von einer Anhänglichkeit, die Jem'shiin neidisch machte.
»Was habe ich alles auf mich genommen für den Grünscheißer!« Jem'shiin versank in Selbstmitleid. »In jeder Sturmnacht war ich bei ihm, jeden Tag habe ich mit ihm verbracht. Und er? Er hat mich getreten und zerkaut! Habe ich ihn dafür bestraft? Nein! Und was ist der Dank für all die Mühe?«
Jem'shiin stutzte. Er hatte die Scheune betreten und ein großes Nichts vorgefunden. Aruulas Satteltaschen lagen noch da, doch die Barbarin war weg. Stirnrunzelnd trat er zurück ins Freie. Wo
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