158 - Orguudoos Brut
mal.«
Jem'shiin klappte den Mund zu. Aruula sah plötzlich so traurig aus, so verloren, und ihre großen braunen Augen füllten sich mit Tränen.
»Schon gut! Schon gut! Kein Grund zum Weinen!«, sagte der shassun hastig und hob abwehrend die Hände. »Guck mal, ich weiß ja nicht, wo Maddrax ist, aber er kommt bestimmt bald zu dir zurück. So blöd kann der Mann nicht sein, dass er dich einen Moment länger als unbedingt nötig allein lässt!«
Jem'shiin nickte ihr zu. »Pass auf! Ich bring nur schnell das Kamshaa in den Stall, dann trinken wir heißen Muuk mit den saikhanas und ich erklär dir, was mit Neezu passiert ist. Es hat seinen Grund, weshalb da nur der Kopf liegt, weißt du?«
Der shassun wollte nach dem Halfter greifen, doch es war keines da. Sein Kamel war längst fort gewandert, hatte einen Balken zum Abstreifen der lästigen Fessel gefunden und war nun anderweitig beschäftigt. Rapushnik hielt den dünnen Schwanz hoch gereckt, zitternd vor Anstrengung und wurstete, was das Zeug hielt.
Jem'shiin grinste schief. »Äh… ich hol mal einen Strick.«
Sprach's und stapfte davon.
Aruula warf ihre Satteltaschen über die Schulter. An der hinteren Scheunenwand lagerte Getreide, davon wollte sie etwas mitnehmen. Sie lauschte Jem'shiins Schritten, dann lief sie los, um ihre Taschen zu füllen.
Rapushnik hatte sein anstrengendes Geschäft inzwischen verrichtet und verspürte ein gewisses Ruhebedürfnis. Er trottete davon, und Aruulas Kopf flog herum, als sie ihn ächzen hörte.
»O nein!«, raunte sie. Der große braune Zottel ließ sich genau vor dem Scheuneneingang auf dem Boden nieder, erst vorne, dann hinten. Seine Zähne mahlten träge aufeinander, und Rapushnik senkte die Lider auf Halbmast.
Aruula knirschte einen Fluch. Wenn sie unbemerkt das Dorf verlassen wollte, dann war dies der richtige Moment – aber wie sollte sie aus der Scheune kommen? Es gab keinen zweiten Ausgang, und das Kamshaa sah nicht so aus, als würde es freiwillig Platz machen. Sie seufzte. Der einzige Weg in die Freiheit führte über seinen Rücken!
Also nahm sie ihn.
Entschlossen marschierte die Barbarin zum Scheunentor, warf ihre Satteltaschen hinaus und schwang ein Bein über die lebende Barriere. Rapushniks Augenlider klappten hoch.
Aruula griff nach einem der Höcker und zog sich auf den Kamelrücken. Eigentlich wollte sie auf der anderen Seite gleich wieder herunter gleiten, doch dazu kam es nicht. Sie saß noch nicht ganz, da wuchtete sich das Kamshaa auf die Füße.
Erst hinten, dann vorn, schaukelnd wie ein Schiff auf rauer See. Aruula klammerte sich erschrocken fest, während sie unfreiwillig immer höher stieg.
Zu ihrem Erstaunen blieb Rapushnik am Ende ruhig stehen.
Er sah sich beinahe auffordernd nach seiner Reiterin um – und Aruula schoss ein kühner Gedanke durch den Kopf! Sie beugte sich vor und kraulte das braune Lockenfell.
»Hör mal«, sagte sie leise. »Wie wäre es, wenn wir uns gemeinsam auf den Weg machten?«
Aruula sah sich um. In Reichweite war ein Balken, nach dem sie notfalls greifen könnte. Sie behielt ihn im Auge, bevor sie probeweise schnalzte, so wie Jem'shiin es immer tat, kurz vor dem Abwurf. Aber anders als bei ihm setzte sich das Kamshaa gehorsam in Bewegung. Rapushnik folgte denselben Hilfen wie ein Yakk, und während er in weiten Kreisen durch die Scheune trottete, wog Aruula ihre Chancen ab. Draußen schneite es, die Sicht war eingeschränkt und das ohnehin nur trübe Tageslicht verging bereits. Die Saikhan waren ausgeritten, konnten sie also nicht gleich verfolgen – und wenn sie zurückkehrten, hatte der Schnee mit etwas Glück schon alle Spuren überdeckt.
Aruula musste nur warten, bis Jem'shiin das Kamshaa in den Stall gebracht hatte. Sobald er gemütlich an der Herdstelle saß, würde sie unter einem Vorwand die Hütte verlassen, Rapushnik holen und fliehen. Sie nickte. Ja, so würde es gehen!
Verwundert sah die Barbarin auf, weil das Kamshaa plötzlich stehen blieb.
Jem'shiin stand in der offenen Scheunentür; sprachlos und sichtlich gekränkt darüber, dass sein widerspenstiger Vierbeiner sich von jemand anderem reiten ließ. Er hob das Halfter an und sagte düster: »Ich bring ihn dann mal weg.«
Als Aruula festen Boden unter den Füßen hatte, ging sie ans Scheunentor und sah Jem'shiin zu, wie er Rapushnik die Straße hinunter führte. Er wusste nicht, dass es das letzte Mal war, und er tat ihr irgendwie Leid.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Es war, als
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