1593 - Der Hexentöter
Kinn passte ebenso zum Gesichtsausdruck wie der böse Blick der kalten Augen.
Er trug einen langen Mantel, dessen steifer hoher Kragen sich hinter dem Hals erhob.
Und plötzlich sprach er, ohne dass sich seine Lippen dabei groß bewegt hätten.
»Wer bist du?« Seine Stimme klang rau, als wäre er stark erkältet.
Emily konnte nicht reden, Sie schüttelte nur den Kopf.
Er ging einen Schritt auf sie zu und löste sich dabei noch mehr aus der Dunkelheit im Hintergrund. Bisher hatte er den rechten Arm dicht an seinem Körper nach unten gestreckt. Jetzt hob er ihn an, und Emily erkannte, was er in seiner Hand hielt.
Es war ein Messer mit einer langen Klinge, die vorn sehr spitz zulief.
Emily sah auch die dunklen Flecken auf dem Metall und wusste, dass es sich dabei nur um das Blut der Toten handeln konnte. Die Spitze wies auf Emilys Kehle.
Der Mörder wiederholte seine Frage.
»Wer bist du?«
Du musst reden!, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn du den Mund hältst, bist du tot, und ihre erste Reaktion bestand aus einem heftigen Nicken.
»Ich warte nicht mehr lange.«
Emily saugte scharf die Luft ein und räusperte sich danach die Kehle frei.
»Bitte, ich gehöre nicht zu ihr. Ich -ich - wollte sie nur besuchen. Das ist alles…«
Mehr brachte sie nicht hervor, der Druck im Innern war einfach zu stark.
Jetzt kam es darauf an, ob ihr die Gestalt glaubte. Zunächst tat sich bei ihr nichts. Sie veränderte nicht ihre Haltung, und auch die Spitze der Stichwaffe bewegte sich nicht zur Seite. Sie bedrohte weiterhin die Kehle der Frau.
Alles stand sekundenlang auf des Messers Schneide, bis der Unheimliche seine Stichwaffe langsam senkte und Emily zum ersten Mal aufatmen konnte.
»Ich glaube dir!«, flüsterte der Mörder ihr zu. »Du bist keine von denen. Wäre es anders, ich hätte es gespürt. Aber in dir stecken keine Hexenkräfte. Ich will dir einen Rat geben, und den solltest du niemals vergessen. Halte dich von den Hexen fern! Komm nicht mal in ihre Nähe, denn sie bringen nur Unglück. Hast du mich verstanden?«
Emily nickte nur.
»Dann ist es gut.« Der Mörder setzte sich in Bewegung und blieb an ihrer linken Seite stehen. So nahe, dass er sie fast berührte.
Emily tat nichts. Es war ihr einfach nicht möglich, etwas zu unternehmen.
Sie wollte die Augen schließen, aber auch das schaffte sie nicht, und so wartete sie auf etwas Schreckliches, denn es musste etwas passieren, sonst hätte er nicht angehalten.
Sie sah, dass er seine freie Hand bis in Höhe ihrer Wange anhob. Und dabei blieb es nicht. Ein kurzes Zucken, und die Finger griffen zu.
Emily stöhnte auf, als die kalten Kuppen ihre Wange berührten und dort die Haut zusammendrückten. Der Schmerz zuckte bis in ihren Kopf. Sie hörte die Flüsterstimme, deren Klang ihr einen Schauer über den Rücken jagte.
»Schönes Fleisch hast du, wirklich. Sehr, sehr schönes und festes Fleisch. Ich bin überzeugt davon, dass es gut brennen würde, wenn du auf dem Scheiterhaufen stehen würdest. Aber du bist keine Hexe, du hast Glück gehabt. Ich aber werde sie brennen lassen. Ich werde sie nicht alle nur töten, ich will sie den Flammen übergeben, und sie werden mitten in der Stadt brennen und damit ein Fanal setzen.«
Er lachte. Dabei löste sich fauliger Atem aus seinem Mund und strich über ihr Gesicht, sodass sie gezwungen war ihn einzuatmen.
Mehr geschah nicht.
Sie konnte es gar nicht glauben, dass sich der Mörder plötzlich in Bewegung setzte, ohne dass er ihr etwas angetan hätte. Wie ein Windhauch berührte es sie noch, dann hörte sie seine Schritte in Richtung Tür verklingen.
Er war weg!
Emily Spencer hörte nichts mehr von ihm, und sie konnte es kaum begreifen, dass sie noch am Leben war.
Sie war allein mit der toten Hexe, aber sie erlebte keinen Traum, obwohl ihr das am liebsten gewesen wäre.
Nein, das hier war die Realität gewesen. Sie brauchte sich nur umzusehen oder nach etwas zu greifen, um sicher zu sein, dass es kein Traum gewesen war.
Obwohl der unheimliche Mörder verschwunden war, kam sie sich noch immer vor, als hätte sie jemand in Eis gepackt. Sie wusste auch nicht, wann und ob sich das wieder ändern würde. Was sie brauchte, war Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten.
Es war alles anders gelaufen, als sie es sich vorgestellt hatte. Kein Blick in die Zukunft. Dafür hatte sie eine Tote gefunden, und die war real.
Noch immer saß ein dicker Kloß in ihrer Kehle, aber die Starre hielt sie nicht mehr im Griff. Emily
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