Zorn und Zeit: Politisch-psychologischer Versuch (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
E INLEITUNG
Europas erstes Wort
A m Anfang des ersten Satzes der europäischen Überlieferung, im Eingangsvers der Ilias , taucht das Wort »Zorn« auf, fatal und feierlich wie ein Appell, der keinen Widerspruch duldet. Wie es sich für ein wohlgeformtes Satzobjekt gehört, steht dieses Nomen im Akkusativ. »Den Zorn besinge, Göttin, des Achilles, des Peleussohns …« Daß es an erster Stelle erscheint, bringt hohes Pathos hörbar zum Ausdruck. Welche Art Beziehung zum Zorn wird in dem magischen Auftakt des Heldenlieds den Hörern vorgeschlagen? Den Zorn, mit dem im alten Westen alles anfing – auf welche Weise will der Rezitator ihn zur Sprache bringen? Wird er ihn als eine Gewalt schildern, die friedliche Menschen in grauenhafte Geschehnisse verstrickt? Diesen unheimlichsten und menschlichsten der Affekte, soll man ihn dementsprechend dämpfen, zügeln, unterdrücken? Geht man ihm eilig aus dem Weg, sooft er sich bei anderen ankündigt und bei einem selber regt? Soll man ihn jederzeit der neutralisierten, der besseren Einsicht opfern?
Das sind, wie man sofort bemerkt, zeitgenössische Fragen, die weit vom Gegenstand wegführen – wenn dieser der Zorn des Achilles heißt. Die alte Welt hatte sich zum Zorn ihre eigenen Wege gebahnt, die nicht mehr die der Modernen sein können. Wo diese an den Therapeuten appellieren oder die Nummer der Polizei wählen, wandten die Wissenden von früher sich an die Überwelt. Um das erste Wort Europas zum Klingen zu bringen, wird von Homer die Göttin angerufen, entsprechend einem alten Rhapsodenbrauch und der Einsicht folgend, daß, wer Unbescheidenes vorhat, ambesten sehr bescheiden anfängt. Nicht ich, Homer, kann das Gelingen meines Gesangs gewährleisten. Singen bedeutet von jeher den Mund auftun, damit höhere Kräfte sich kundgeben können. Erlangt mein Vortrag Erfolg und Autorität, werden die Musen dafür verantwortlich gewesen sein, und jenseits der Musen, wer weiß, der Gott, die Göttin selbst. Verhallt der Gesang ungehört, waren die höheren Mächte an ihm nicht interessiert. Im Fall Homers fiel das Gottesurteil deutlich aus. Am Anfang war das Wort »Zorn«, und das Wort war erfolgreich.
Menin aiede, thea, Peleiadeo Achileos
Oulomenen, he myri Achaiois alge eteke …
Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles,
den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern
Schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß …
Unmißverständlich wird in den Anrufungsversen der Ilias vorgeschrieben, auf welche Weise die Griechen, Mustervolk okzidentaler Zivilisierung, dem Einbruch des Zorns in das Leben der Sterblichen begegnen sollen – mit dem Staunen, das einer Erscheinung angemessen ist. Der erste Appell unserer Kulturüberlieferung – ist aber dieses »unser« noch gültig? – spricht die Bitte aus, die Überwelt möge den Gesang vom Zorn eines einzigartigen Kämpfers unterstützen. Bemerkenswert dabei ist, daß der Sänger keinerlei Beschönigung im Sinn hat. Von den ersten Zeilen an kehrt er die unheilstiftende Kraft des heroischen Zorns hervor: Wo er sich manifestiert, fallen die Schläge nach allen Seiten. Die Griechen selbst haben darunter sogar mehr zu leiden als die Trojaner. Schon ganz zu Beginn des Kriegsgeschehens wendet sich der Zorn des Achilles gegen die Seinen, um sich erstkurz vor der Entscheidungsschlacht wieder in die griechische Front einzureihen. Der Ton der ersten Verse gibt das Programm vor: Die Seelen der besiegten Helden – hier stattlich genannt, im allgemeinen eher als schattenhafte Phantome vorgestellt – fahren in den Hades hinab, ihre leblosen Körper, Homer sagt: »sie selbst«, werden von Vögeln und Hunden unter offenem Himmel gefressen.
Mit euphorischem Gleichmaß gleitet die Stimme des Sängers über den Horizont des Daseins, aus dem es dergleichen zu berichten gibt. Grieche sein und diese Stimme hören bedeutet während des klassischen Zeitalters dasselbe. Wo man sie vernimmt, wird eines unmittelbar verständlich: Krieg und Frieden sind Namen für Phasen eines Lebenszusammenhangs, in dem die Vollbeschäftigung des Todes nie in Frage steht. Daß der Tod dem Helden früh begegnet, auch dies gehört zu den Botschaften des Heldenlieds. Wenn das Wort »Gewaltverherrlichung« je einen Sinn hatte – für diesen Introitus zur ältesten Urkunde der europäischen Kultur wäre es am Platz. Doch würde es nahezu das Gegenteil dessen bezeichnen, worauf es in seinem heutigen, unvermeidlich mißbilligenden Gebrauch
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