1593 - Der Hexentöter
In gewissen Kreisen hatte es sich herumgesprochen, dass Melinda in die Zukunft blicken konnte. Das wollte auch Emily Spencer ausprobieren. Es war ihr zudem egal, ob die Frau wirklich Melinda hieß, für sie zählte nur, dass ihre Erwartungen erfüllt wurden.
Sie wollte, dass ihr die Angst vor ihrem Ex, einem gewalttätigen Menschen, genommen wurde.
Sie hatte versucht, ihm zu entfliehen. Es war ihr leider nicht gelungen. Er schaffte es immer wieder, sich an sie heranzumachen und sie zu bedrohen.
Jetzt wollte Emily Spencer wissen, ob sich das auch in der Zukunft fortsetzen würde. Wenn ja, dann konnte sie Gegenmaßnahmen treffen.
Da würde ihr die Hexe sicherlich auch raten können.
Emily Spencer fuhr bis dicht an das Haus heran. Sie war froh, es bei dieser Dunkelheit gefunden zu haben, aber Licht in den Fenstern des Hauses sah sie noch immer nicht. Nach wie vor waren ihre Scheinwerfer die einzigen Lichtquellen in weiter Runde. Als helle Flecken klebten sie jetzt an der Hauswand, die grau und rissig aussah. Der Zahn der Zeit hatte an dieser Fassade genagt.
Die Fahrerin überlegte noch, ob sie das Scheinwerferlicht brennen lassen sollte. Sie entschied sich dagegen. Sie wusste nicht, wie lange ihr Besuch dauern würde, und sie wollte nicht riskieren, mit einer leeren Autobatterie nicht mehr von hier wegzukommen.
So schaltete sie das Licht aus und erlebte, dass die Dunkelheit wie ein Sack über das Fahrzeug fiel.
Sie stieg noch nicht aus. Starr blieb sie sitzen und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Das Herz schien in ihrer Brust zu hüpfen.
Es war nicht unbedingt warm im Auto, trotzdem hatte sich auf ihrer Stirn ein dünner Schweißfilm gebildet.
Emily stellte fest, dass sie gut geparkt hatte. Der Wagen stand nahe an der Haustür, vor der sie keine Treppe sah. Auf ebenem Weg konnte sie das Haus betreten.
Warum sah sie kein Licht hinter den Fenstern?
Emily kam nicht unangemeldet. Sie wurde erwartet, und dass Melinda im Dunkeln wartete, war für sie schon ungewöhnlich. Das hatte sie sich nicht so vorgestellt.
Es waren nur ein paar Schritte bis zur Haustür. Sie stieß die Tür ihres Wagens auf und stieg aus. Sofort erfasste sie die kalte Luft. Der Wintereinbruch würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. In den Morgenstunden lag schon der Raureif auf den Rasenflächen und den Dächern der Häuser wie eine silbrige Schicht.
Sie ging die wenigen Schritte auf die Haustür zu. Es gab keinen Weg.
Auch hier musste sie über den unbefestigten Boden gehen, aber etwas gab ihr Hoffnung.
Sie glaubte, hinter einem der Fenster Licht schimmern zu sehen. Sie atmete auf. Also musste sich jemand im Haus befinden. So war sie nicht umsonst hergefahren.
Als sie zwei Schritte von ihrem Ziel entfernt war, zuckte sie heftig zusammen, weil sich über der Eingangstür eine Kugel erhellte und ihr Schein auf die Besucherin fiel und sich auch auf der Hauswand und dem Boden davor verteilte.
Emily Spencer fiel ein Stein vom Herzen, doch viel wohler fühlte sie sich trotzdem nicht.
Sie suchte nach einem Klingelknopf, aber da war nichts zu sehen, weder an der Hauswand noch an der geschlossenen Haustür. Möglicherweise musste sie sogar klopfen.
Nein, das brauchte sie nicht. Als sie nahe an die Tür herangetreten war, stellte sie fest, dass sie nicht richtig geschlossen, sondern nur angelehnt war.
Es genügte ein leichter Druck, um sie nach innen zu stoßen. An sich keine große Sache. Sie zögerte trotzdem.
Emily wunderte sich, dass sie nichts hörte.
Sie war ja nicht absolut leise an das Haus herangefahren. Man hätte sie hören müssen.
Keine Reaktion.
Emily war es letztendlich egal. Sie gab sich einen Ruck, legte ihre Hand gegen das feuchte Holz und drückte die Tür nach innen, die dabei nur wenig Geräusche abgab.
Der erste Blick.
Emily hatte sich innerlich davor gefürchtet, obwohl nichts geschah, was ihr Gefahr signalisiert hätte.
Es war bei ihr auch mehr ein Wundern als die Angst vor dem Neuen.
Den Umrissen des kleinen Hauses nach zu urteilen hätte sie in einen engen Flur gelangen müssen, von dem die Türen zu verschiedenen kleinen Räumen abgingen, doch das traf nicht zu.
Es gab keinen Flur. Es gab auch keine kleinen Zimmer. Es war nur ein Raum vorhanden, und der nahm das gesamte Erdgeschoss ein.
Dicht hinter der Tür blieb Emily Spencer stehen und staunte.
Dass es nicht völlig dunkel war, beruhigte sie ebenfalls. Den schwachen Lichtschimmer hatte sie schon von draußen gesehen, und jetzt
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