160 - Der untote Kreuzritter
Wimmern und Jaulen kam aus Tirsos Zimmer.
Vorsichtig hob ich den Kopf.
Das gespensterhafte Pseudowesen trieb auf den Gang hinaus, und es löste sich langsam auf. Die Spraydose hielt es nicht mehr in den Händen.
In diesem Augenblick hörte ich einen gellenden Schrei, der aus der Bibliothek kam. Es war die Stimme unseres Sohnes.
Ich warf Coco einen Blick zu und erstarrte. Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf war seltsam verdreht. Aus einer Wunde an der linken Schläfe floß Blut. Neben ihrem Kopf lag ein faustgroßer Stein.
Ruckartig sprang ich hoch, stürzte auf sie zu und warf mich auf die Knie.
Sie ist tot, war mein erster Gedanke. Mein Herz schlug wie verrückt, als ich sie vorsichtig auf die. Seite wälzte.
„Mama!" brüllte Martin. „Mama!"
Gott sei Dank, dachte ich, sie lebt. Aber ich konnte nicht beurteilen, wie schwer verletzt sie war.
Von der Decke lösten sich wieder einige Steine, und ich beugte meinen Oberkörper über Cocos Kopf, um ihn vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Tirso hatte sein Zimmer verlassen. Breitbeinig stand er ein paar Schritte vor mir. Es war über einen Meter fünfzig groß. Das war für einen sechsjährigen Jungen anormal. Sein Schädel war haarlos, und das blaue Gesicht wurde von dem einen Auge beherrscht, das wie ein Diamant funkelte.
Vermutlich hatte er dem Geisterwesen die Spraydose entrissen, deren Inhalt ihn hätte betäuben sollen.
Tirso drehte den Kopf ein wenig zur Seite und stierte eine Wand an, die unter seinem Blick zu beben begann.
Ich riß mir die Gasmaske vom Gesicht, als der Zyklopenjunge auf mich zustapfte.
Martin schrie wieder.
Der blauhäutige Junge blieb stehen und bewegte den Kopf hin und her.
Nun sah er mich an, und mir stockte der Atem.
Aber irgend etwas anderes weckte Tirsos Aufmerksamkeit, denn er blickte nun an mir vorbei. Vorsichtig wandte ich den Kopf zur Seite. Durch die geschlossene Bibliothekstür trat Phillip. Sein Körper schien von innen zu leuchten und tauchte ihn in ein gleißendes, goldenes Licht.
Dann spürte ich die Hitze und ließ mich neben Coco auf den Boden fallen.
Aus Tirsos pulsierendem Auge schoß ein glutroter Feuerstrahl, der Phillip traf, ohne ihn aufzuhalten. Lächelnd kam er auf uns zu. Beide Arme hatte er erhoben, und er streckte Tirso die Handflächen hin.
Der Zyklop fauchte wütend, und der Feuerstrahl wurde immer intensiver und stärker. Im Gang war es plötzlich so heiß wie in einem Backrohr; der Schweiß rann in Strömen über mein Gesicht, und innerhalb von wenigen Sekunden war meine Kleidung durchgeschwitzt.
Nun schien die Zeit stillzustehen, die Luft wurde glasartig, die Wände wölbten sich, und die Perspektiven verschoben sich.
Der Hermaphrodit, dessen Fähigkeiten ich nicht einmal ahnen konnte, verblüffte mich wieder einmal. Solche Kräfte mußte er seinerzeit entwickelt haben, als er die Dämonen-Drillinge mit Hilfe des Drudenfußes besiegt hatte.
Phillip schwebte an mir vorbei. Sein Anblick löste bei mir Grauen aus. Ja, genauso hatte er nach dem Kampf gegen Althasar, Bethiar und Calira ausgesehen. Das Fleisch schwand von seinen Knochen, und die Haare fielen ihm büschelweise aus.
Er zog Tirso an sich und preßte seine Lippen auf das gleißende Auge. Der Zyklopenjunge wehrte sich heftig, doch nach und nach wurden seine Bewegungen schwächer. Phillip löste sich von Tirso und taumelte zur Seite. Für einen Augenblick sah ich die matten, goldenen Augen und sein Gesicht, das zu einem Totenkopf geworden war. Wie ein Betrunkener schwankte Phillip auf mich zu.
Tirso war zu einer Statue erstarrt.
Mühsam rappelte ich mich hoch, und Phillip fiel bewußtlos in meine Arme. Er war leicht wie eine Feder.
„Abi!" schrie ich mit überschnappender Stimme.
Die Geschehnisse der nächsten Stunde nahm ich nicht bewußt wahr.
Ich sah alles wie durch einen dichten Schleier hindurch.
Martin hockte weinend neben seiner noch immer bewußtlosen Mutter, und Abi packte Tirso und trug ihn in sein Zimmer. In der Zwischenzeit waren auch die anderen Burgbewohner eingetroffen. Irgend jemand nahm mir Phillip ab. Ira Marginter bekam einen Weinkrampf, als sie uns erblickte, aber vermutlich regten sie die Verwüstungen mehr auf, die Tirso angerichtet hatte.
Ich stand noch immer unter Schockeinwirkung.
Abi erzählte mir später, daß ich ununterbrochen nach Coco gerufen hatte. Doch davon bekam ich nichts mit. Burkhard Kramer und Virgil Fenton schleppten mich in die Bibliothek und legten mich auf eine Couch.
Burian
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