1604 - Panoptikum des Schreckens
gewesen, sagt man. Erst wurden die Kinder getötet, dann haben sich die Eltern umgebracht. Das ist schon ein Hammer. Man kann sie sogar sehen, wenn Sie in das Haus gehen.«
»Die Toten?«
»In Wachs, natürlich.«
Die Staatsanwältin überlegte, ob sie das alles glauben sollte. Es konnte sein, dass sich der Junge mit seinem angeblichen Wissen nur interessant machen wollte.
»Man muss ja keine Angst mehr davor haben. Sie sind alle tot. Aber das Andenken wurde bewahrt. Fremde sehen da nur eine normale Familie mit zwei Kindern. Sie sitzen richtig spießig zusammen.« Er lachte. »Wer die Geschichte nicht kennt, kommt auch nicht auf so eine Vermutung.«
Er legte den Kopf schief. »Habe ich Sie jetzt erschreckt, Madam?«
»Nein, warum? Mache ich den Eindruck?«
»Hätte ja sein können.« Sie winkte ab.
»Und jetzt, Madam? Was ist? Haben Sie sich entschieden? Wollen Sie das Haus besichtigen?«
Purdy Prentiss hatte sich entschieden. »Im Prinzip schon«, erklärte sie, »aber du hast mir noch nicht gesagt, wie lange eine Besichtigung dauert.«
Er hob die Schultern und meinte: »Eine Stunde vielleicht. Kann auch schneller gehen. Wenn Sie wollen, dann bleibe ich an Ihrer Seite. Ich kenne mich aus.«
»Oh, ein Kavalier und Beschützer.«
»Klar doch.«
Purdy warf einen knappen Blick auf ihre Uhr. Danach nickte sie. »Na dann, gehön wir los.«
»Gratuliere, Madam. Was Sie gleich sehen, das werden Sie nie im Leben vergessen.«
»Da bin ich mal gespannt.«
»Sie werden nicht enttäuscht sein.«
Purdy Prentiss lächelte. Das konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch.
Später war sie dazu nicht mehr fähig.
Aber das wusste sie zu diesem Zeitpunkt nicht…
Es war kein weiter Weg, den sie gehen mussten. Sie konnten sich ruhig Zeit lassen. Das war vergleichbar mit einem Schlendern durch die Winterlandschaft.
An der rechten Seite standen Häuser, die allesamt nicht sehr hoch gebaut waren. Das hier war so etwas wie eine Shopping-Galerie, denn in den unteren Etagen der Gebäude befanden sich die unterschiedlichsten Geschäfte und Imbisse, in denen internationales Fast Food angeboten wurde.
Es gab auch kleine Pubs und Cafés, deren Schaufenster im Licht der Wintersonne gebadet wurden. Wäre jetzt Sommer gewesen, dann hätten vor den Cafés sicherlich Tische und Stühle gestanden.
Die Sonne hatte nicht wenige Menschen ins Freie gelockt. Sie flanierten an den Häusern vorbei oder gönnten sich hin und wieder einen Drink sowie auch mal eine kleine Mahlzeit.
Es fuhren nur wenige Autos. Auf der anderen Seite der Straße sah Purdy ein leeres Gelände.
Purdy Prentiss ging neben Rudy her und dachte darüber nach, auf was sie sich eingelassen hatte.
War es wirklich richtig gewesen, Rudy zu diesem Haus zu begleiten?
Sie konnte sich selbst darauf keine Antwort geben, aber es war typisch für sie, dass sie einer spontanen Reaktion gefolgt war. Etwas hatte sie neugierig gemacht, und jetzt musste sie einfach herausfinden, ob sich die Neugierde gelohnt hatte.
Auf dem Kopf trug die eine gestrickte Wollmütze, die an der rechten Seite gestickte Blumen aufwies. Purdy war froh, sich die Mütze gekauft zu haben, denn jetzt hielt sie die Ohren und die Stirn warm.
Der Wind war nicht völlig eingeschlafen. Hin und wieder wehte vom freien Feld her eine Bö heran, die pulvrige Schneekristalle mitbrachte und sie in die Gesichter der Menschen blies.
Rudy schaute die Staatsanwältin hin und wieder von der Seite her an.
»Darf ich mal fragen, woher Sie kommen?«
»Ja, das darfst du. Aber du kannst auch raten.«
»London.«
»Richtig.«
»Dafür habe ich einen Blick.«
»Dann gratuliere ich dir.«
»Ja, ich bin kein Dorftrottel.« Purdy musste lachen. »So habe ich dich auch nicht eingeschätzt.«
»Danke.«
Sie mussten noch ein paar Meter gehen, um ihr Ziel zu erreichen. Es war nicht zu übersehen, denn dort befand sich ebenfalls eine Plakatwand.
Der rote Richtungspfeil war nicht zu übersehen. Er zeigte nach rechts, und dort stand das Haus, das sich Panoptikum des Schreckens nannte.
Es war von keinen weiteren Häusern umgeben, stand also auf einem freien Platz, aber das Grundstück war von einem Zaun umgeben, der aus Metallstäben bestand. Auch hier hatte der Wind den Schnee hoch gewirbelt und die Flocken gegen den Zaun getrieben, auf dessen Pfosten sie kleine Hauben hinterlassen hatten.
Das Dach trug ebenfalls eine weiße Schicht, während die Mauern dunkel aussahen.
Sowohl unten als auch in der ersten Etage gab es eine Menge
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