1659 - Die Totengöttin
hier, stand aber so, dass sie nicht störte.
Ich ging auf das Gauben Fenster zu. In früheren Zeiten hätten auf dem Glas die Eisblumen geklebt. Das war heute in Zeiten der isolierten Fenster nicht mehr möglich. Eine gewisse Unruhe steckte schon in mir, als ich an das Fenster trat und nach dem Griff fasste. Hier oben war ich wieder von der Stille umgeben, die ich auch draußen erlebt hatte. Der Griff war schnell gedreht, wenig später zog ich das Fenster auf und erlebte den ersten Schwall an Kälte, der mich erwischte. Die Temperaturen lagen tief im Minusbereich.
An der Fensterbank stemmte ich mich ab und schob meinen Oberkörper ins Freie. Vor mir lag das schräge Dach. Das Gefälle hörte erst an der Dachrinne auf. Natürlich lag Schnee auf den Pfannen. Allerdings nicht überall. An einigen Stellen hatte der Wind die weiße Pracht weggeweht. Dort waren die Pfannen mit einer Eisschicht belegt. Sich hier über das Dach zu bewegen war lebensgefährlich. Auch ich hielt mich zunächst zurück und schaute mir das an, was mir meine Sichtperspektive ermöglichte. Viel war es nicht. Ich schaute die Schräge hinab fast bis zur Dachrinne und ließ meinen Blick dann über die Dächer der nahe stehenden anderen Häuser gleiten. Das wäre bei Tageslicht kein Problem gewesen. In der Dunkelheit sah es anders aus. Zwar überblickte ich auch andere Dächer, doch da war kaum etwas zu erkennen. Je länger ich schaute, umso mehr verwandelten sie sich in Schatten, auf denen sich nichts bewegte. Die Kälte ließ die Luft erstarren, das glaubte ich zumindest, obwohl ein leichter Wind wehte, der die Luft noch kälter erscheinen ließ. Niemand bewegte sich fliegend über die Dächer hinweg. Es war alles still. Auch aus der Tiefe wehten keine Geräusche zu mir hoch, aber ich wollte mich noch nicht zurückziehen, weil ich bisher nur eine Dachseite kontrolliert hatte. Es gab noch eine zweite. Ich musste nicht auf das Dach klettern, um sie zu erreichen. An der anderen Seite befanden sich die schrägen Fenster, durch die ich zumindest über die Dächer schauen konnte.
Es kam doch alles anders. Etwas zwang mich dazu, nicht die Seite zu wechseln. Ich hörte ein Geräusch, so etwas wie ein Kratzen. Das war über mir aufgeklungen. Den Grund kannte ich nicht. Es war bestimmt kein Vogel, die schliefen bei dieser Kälte sicherlich dort, wo es ein wenig wärmer war.
Ich hielt für einige Sekunden den Atem an und wartete darauf, dass sich das Geräusch wiederholte.
Das geschah auch.
Aber diesmal lauter.
Über und irgendwie auch hinter mir. Ich schob mich wieder vor, was ein Fehler war. Ich hatte den Kopf noch nicht richtig ins Freie gestreckt, da erwischte es mich. Ein Lachen klang auf dem Dach auf, und das war nicht von einem Spaßvogel abgegeben worden. Ein Spaßvogel schlug auch nicht einem Menschen hart gegen den Kopf.
Das war bei mir der Fall.
Ich musste den Treffer hinnehmen. Er erwischte mich am Hinterkopf und nahe des Ohrs.
Das war es dann. Ich rutschte ab und war froh, dass die obere Dachetage mit einem Teppich ausgelegt worden war.
Auf ihm landete ich und sackte noch in derselben Sekunde zusammen…
***
Ob es ein Glück war, dass ich nicht bewusstlos wurde, konnte ich nicht einschätzen. Zumindest lag ich zu-, nächst mal flach und konnte nichts unternehmen. Der Treffer hatte mich schon etwas paralysiert, aber ich war noch in der Lage zu sehen, auch wenn sich ein milchiger Vorhang vor meine Augen gelegt hatte. Zudem war ich so gefallen, dass mein Blick gegen das offene Fenster fiel. Ich spürte die Kälte, ignorierte sie jedoch, weil in dem Fensterausschnitt eine Gestalt erschien. Sie kroch von der Seite her näher, bis sie die Öffnung ausfüllte. Sie warf mir noch einen Blick zu, bevor sie zu Boden sprang. Es war die Nackte. Nur hielt sie jetzt ihre Flügel - oder was immer es sein mochte - geschlossen. Sie stand wie eine normale Frau vor mir und schaute auf mich herab. Ich sah hoch. Das schwarze Haar fiel ihr bis über die steifen Brüste. Ihr Körper sah grau aus und auch das blasse grünliche Fluoreszieren war nicht verschwunden. Mein Gehirn arbeitete glasklar. Ich ärgerte mich darüber, in einer derartigen Lage zu stecken. Diese Person konnte mit mir machen, was sie wollte. Mich töten, mich foltern, mir den Hals umdrehen, und ich musste alles mit mir geschehen lassen. Das schien sie nicht vorzuhaben, sonst hätte sie sich schon längst auf mich gestürzt. Dafür ging sie einmal um mich herum, um danach an meiner linken
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