Tablettenfee
1 Eine Frau namens Bianca
Udo sah müde in den Spiegel. Die letzte Nacht hatte Spuren hinterlassen. Sein Gesicht sah fertig und mitgenommen aus. Wirklich mitgenommen. Das dürften einige Drinks zu viel gewesen sein, aber Udo konnte sich an nichts mehr erinnern. Aber was sonst hätte wohl zu einem derartigen Brummschädel führen können? Er fuhr mit der Hand an den Kopf. War er mit seinen zweiunddreissig Jahren schon zu alt zum Fortgehen? Dem Rot in seinen Augen und dem düster brummenden Schmerz im Hinterkopf zufolge, war es eine lange Nacht gewesen. Ganz sicher sogar, denn Udo war noch immer nicht vollständig in dieser Welt angekommen. Er stützte sich auf dem Waschbecken auf und betrachtete mit starrem Blick sein Spiegelbild. Dabei fiel sein Blick auf einen Zettel.
Dieser Zettel war neu. Er steckte links im Rahmen des Spiegels, gleich hinter der Shampooflasche. Hier war normalerweise nichts - außer vielleicht Staub und Wasserspritzer. Er blinzelte. Der Zettel war immer noch da. Er bückte sich und mit ein wenig Fantasie entzifferte er einen Mädchennamen. ›BIANCA‹ stand anscheinend auf dem Zettel. Darunter war allem Anschein nach eine kaum leserliche Handynummer hingekritzelt.
0650 55 …., und dann? War es eine 9? Oder eine 8? Oder noch eine 5? Udo hatte keine Ahnung. Der Rest war verschwommen und unleserlich. Noch einmal eine 8? Ja, müsste es sein. Andererseits war es gänzlich egal. Der gesamte nachfolgende Rest war sowieso komplett unleserlich und bot nicht annähernd eine Chance auch nur eine einzige weitere Ziffer ansatzweise zu entziffern. Udos Schrift war immer schon schrecklich gewesen und zusätzliche Feuchtigkeit – woher diese auch immer gekommen sein mochte – hatte nicht unbedingt dazu beigetragen die Entschlüsselung zu erleichtern. Nun gut, die Nummer war weg. Aber eine Frage blieb: Wer war diese Bianca? Und warum steckte dieser Zettel überhaupt an seinem Spiegel? Hatte er ihn dahin geklebt? Warum konnte er sich gar nicht daran erinnern? Merkwürdig. Er ließ den Zettel kleben und ging zurück zu seinem Bett. Dort angekommen, wischte er mit einer fahrigen Handbewegung seine Kleidung der letzten Tage vom Bett. In letzter Zeit hatte er es vorgezogen, seine Kleidung griffbereit zu deponieren und alles stets einfach auf sein Bett geworfen. Er setzte sich auf den nun frei gewordenen Platz und startete den Versuch sich zu erinnern. Aber es blieb beim Versuch. Da war nichts. Gar nichts. Nur eine gähnende Leere in seinem Gehirn, das sich mit großer Anstrengung an etwas zu erinnern versuchte, wovon es anscheinend gar nichts mehr wusste. Er strengte sich weiter an. Alles, was ihm in den Kopf kam, war ein dumpfer, stechender Schmerz. Verdammt. Aua! Schnell wurde ihm bewusst, dass die nächsten Minuten vergeudete Liebesmühe in Sachen Erinnerung wären, also beschloss er diese gedanklichen Anstrengungen auf später zu verlegen. Kurzer Blick auf die Uhr. Es war bereits halb eins.
Er bückte sich, um seine Kleidung von gestern anzuziehen, aber zu seiner Verwunderung war sie nicht da. Hä? Also ging er erst mal, nur mit seiner Unterhose bekleidet, quer durch seine kleine Junggesellenbude um zu pinkeln. Udo klappte den Deckel der Toilette hoch, hockte sich nieder und ließ dem Wasser freien Lauf. Nach gefühlten endlosen zehn Minuten und einer jubilierenden Blase später, fiel sein Blick in die Badewanne. Hä? Da war sie ja – seine Kleidung von gestern Abend. Hastig griff er hin und ließ sie aber auch gleich wieder fallen. Nass?! Hatte er gestern womöglich tatsächlich die Kontrolle über seine vegetativen Funktionen verloren? Schnupperkontrolle! »Wäähhh!«
Dennoch Glück gehabt – kein Urin.
Bis auf wirklich fiesen Mief nach Zigarettenrauch bot die Kleidung keine sonstigen geruchlichen Eindrücke zum Erforschen an. Also Wasser? Hatte er gestern hier einen Rohrbruch gehabt? Nein. Definitiv nicht. Die Wohnung war in Ordnung. Hatte es etwas mit dieser ominösen Bianca vom Zettel zu tun? Komisch. Er ließ die Sachen wieder zurück in die Badewanne fallen, wo sie mit einem lauten ›PLATSCH!‹ aufschlugen.
Wieder neben seinem Bett angekommen, zog er sich eine der Jeans aus dem Kleidersammelsurium an. Nachdem er den obersten Knopf geschlossen hatte, wischte er die Staublurche, die sich in großer Zahl auf der Hose versammelt hatten, ab. Im Anschluss stülpte er sich sein rotes Che-Guevara-Leibchen über und schlurfte so langsam es ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank. Leer. Na,
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