1690 - Die Schwelle zum Jenseits
einen gewissen Respekt.
Einige Meter weiter vorn fiel von der linken Seite Tageslicht in den Gang. Dort befand sich die Treppe, die zum Bahnsteig hoch führte.
Vor der ersten Stufe blieben die Frauen stehen.
»So, jetzt können Sie sich nicht mehr verlaufen. Gehen Sie die Treppe hoch, dann sind Sie auf dem richtigen Bahnsteig. Ich denke, dass der Zug in kurzer Zeit einlaufen wird.«
Marcia wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Mit so viel Hilfsbereitschaft hatte sie nicht gerechnet. Sie bedankte sich bei der Frau und umarmte sie sogar.
»Es ist toll, dass ich Sie getroffen habe und dass Sie mir haben helfen können.«
»Keine Ursache. Dafür bin ich da!«
»Danke sehr.« Marcia beschäftigte sich mit einem Gedanken, von dem sie nicht wusste, ob sie ihn aussprechen sollte oder nicht. Ihre Eltern wussten nicht, wohin sie fahren wollte. Es war alles recht geheim, obwohl sie schon eine Bekannte eingeweiht hatte. Jetzt dachte sie darüber nach, ob sie auch der Frau Bescheid sagen sollte. Sie konnte sich vielleicht mit ihren Eltern in Verbindung setzen und erklären, dass sie sich keine Sorgen machen sollten.
Nein, das war schlecht, denn die Bahnangestellte wusste ohnehin, wohin sie fahren würde. Das sollten ihre Eltern auf keinen Fall von einer Fremden erfahren. Später würde sie es ihnen selbst sagen, obwohl sie nicht wusste, wie das Später aussehen würde.
»Ist noch was?«, fragte die Frau.
»Ähm – nein, nein. Mir ist nur etwas durch den Kopf gegangen. Danke noch mal für Ihre Hilfe.«
»Keine Ursache. Viel Glück.«
Marcia drückte die ihr entgegengestreckte Hand. »Danke, das kann ich brauchen.« Danach packte sie die Reisetasche fester und eilte die Treppe zum Bahnsteig hoch. Dort lief der Zug soeben ein, der sie in ein neues Leben bringen sollte, um ihr das wahre Glück zu zeigen.
Aber sie wusste nicht mehr, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht, und diese gemischten Gefühle blieben bestehen, als sie den Zug betrat …
***
Wozu hatte man alte Freunde, wenn man ihnen nicht mal ab und zu einen Gefallen tun kann?
Mein ältester Freund hieß Bill Conolly, und der hatte es tatsächlich geschafft, dass ich mit ihm zusammen im Flieger nach Mailand saß, um mich dort mit ihm um einen Fall zu kümmern, von dem wir nicht wussten, ob er tatsächlich zu einem werden würde, der auch mich etwas anging.
Offiziell war ich nicht geschickt worden, und so hatte ich mir Urlaub genommen. Drei Tage hatte mir Sir James nicht verwehren können. In der letzten Zeit hatte es beruflich viel Wirbel gegeben und ich hatte mich zumeist im Auge dieses Wirbelsturms befunden.
Worum ging es?
Während Bill Conolly auf dem Sitz neben mir saß und die Augen geschlossen hielt, dachte ich über den Fall nach, der erst noch einer werden sollte.
Aber die Voraussetzungen waren gegeben, und sogar Sheila Conolly hatte darauf gedrängt, dass Bill und ich uns einsetzten, denn es konnte durchaus eine Macht am Werke sein, die wir normalerweise bekämpften.
Es ging um die Familie Gitti.
Romana Gitti war eine Modedesignerin, die tolle und tragbare Kleider entwarf. Und da Sheila Conolly indirekt im Modebusiness tätig war – sie fungierte oft als Geldgeberin und organisierte dazu auch manchmal den Vertrieb –, kannte sie sich in der Branche aus. Als sie Romana Gitti kennenlernte, waren sich die Frauen von Beginn an sympathisch gewesen und hatten eine Zusammenarbeit beschlossen.
Sheila war hin und wieder mal für einen oder zwei Tage nach Mailand geflogen, man hatte dort über die neuesten Kollektionen gesprochen und war sich auch privat näher gekommen.
Die Familien kannten sich, und die Conollys wussten auch, dass die Gittis eine Tochter hatten, die zwei Jahre älter als Johnny Conolly war.
Sie hieß Marcia, und Romana Gitti war froh gewesen, dass sich ihre Tochter für den gleichen Weg entschieden hatte wie sie. Marcia wollte ins Modegeschäft einsteigen.
Doch dann hatte sie es sich anders überlegt. Von einem Tag auf den anderen war sie ausgestiegen, um ihr Leben radikal zu ändern.
Das war ihr auch gelungen.
Weg aus der Welt der Überdrehten, der Exzessiven, der Showleute, die in ihrer eigenen Wirklichkeit lebten. Marcia war zwar nicht in einem Kloster verschwunden, aber dem Weg ihrer Eltern wollte sie nicht mehr folgen. Dass sie noch bei ihnen wohnte, glich schon einem kleinen Wunder.
Und dann war sie verschwunden.
Von einem Tag auf den anderen.
Die Eltern hatten nichts mehr von ihr gehört. Marcia war einfach
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