170 - Hüte den Speer - Magiure, Margo
und unterdrückte das unziemliche Verlangen.
Er fragte sich, ob Keelin sich seit der Ankunft in Wrexton überhaupt ausgeruht hatte und tadelte sich selbst, seinen Gast vernachlässigt zu haben. Schuldbewusst betrachtete er die dunklen Ringe unter ihren Augen. Es wurde ihm klar, dass sie sich nicht nur um Adam, sondern auch um ihren Onkel gekümmert hatte, während er am Nachmittag anderen Dingen nachgegangen war, etwa den Bischof zu empfangen, den Kämmerer von Wrexton zu sprechen oder nach seinen Falken zu sehen.
Was war er nur für ein Gastgeber! Keelin war den ganzen Tag über allein gewesen. Zwar hatte sie an der Totenmesse für seinen Vater teilgenommen, aber danach war sie verschwunden. Die heilige Messe hatte sie tief bewegt – mehr als einmal hatte er beobachtet, dass sie ihre Tränen trocknete, aber er hatte noch einen tieferen Kummer in ihr wahrgenommen, einen Seelenschmerz, den sie bis dahin nicht gezeigt hatte. Gewiss, Keelin O’Shea behielt ihre Gedanken und Gefühle für sich. Marcus war noch nie einer Frau wie ihr begegnet.
„Mylord?“, fragte sie. „Vielleicht hätte ich jemand anderen rufen …“
„Nein, nein“, erwiderte Marcus und starrte auf die Wunde seines Vetters. „Wie kann ich Euch behilflich sein?“
„Sprecht mit Adam und beruhigt ihn“, sagte sie leise. „Ich fürchte, der arme Junge wird starke Schmerzen haben.“
Marcus empfand den Klang ihres irischen Akzents als angenehm, wie in all den Tagen zuvor. Vermutlich war sie nicht mehr als eine vertriebene irische Edelfrau, die eine Gabe besaß, in die Zukunft zu sehen. Er hoffte inständig, dass keine überirdische Zauberkunst mit im Spiel war.
Er fuhr sich mit den Handflächen übers Gesicht und kniete dann neben dem Jungen. „Adam“, sagte er. Da er keine Antwort erhielt, sah er Keelin an.
„Ich habe ihm etwas eingeflößt, das die Schmerzen lindern soll“, erklärte sie. „Er ist schläfrig, aber es ist besser, wenn Ihr mit ihm sprecht.“
Bereitwillig nickte er. „Adam“, wiederholte er und berührte den Kopf des Jungen. „Er glüht ja!“
„Die Wunde schwärt und ruft jetzt ein heftiges Fieber hervor“, erwiderte Keelin. „Deshalb muss ich sie entgiften.“
Sie wusste offenbar genau, was zu tun war, und so redete Marcus ruhig auf Adam ein, während Keelin mit gezielten Handgriffen die Wunde versorgte. Der Junge stöhnte mehrfach leise auf und krümmte sich vor Schmerzen, aber dank der Kräuter war er nicht bei vollem Bewusstsein.
Marcus hielt Schultern und Arme des Jungen fest und erzählte ihm etwas. Er versuchte, seinem Vetter genauso gut zuzureden, wie Keelin es ein paar Tage zuvor bei den anderen Verletzten getan hatte, während sie tat, was unumgänglich war. Schließlich säuberte sie die Wunde und strich eine grünliche Salbe über die verletzte Stelle.
„Wie geht es ihm?“, fragte sie.
„Er ist bewusstlos, glaube ich“, erwiderte Marcus.
„Umso besser für ihn“, sagte Keelin. „Ich musste ihm wehtun.“ Sie wusch sich die Hände und begann, einen frischen Verband anzulegen. Doch da sie die Leinentücher um den Oberkörper wickeln musste, tat sie sich allein schwer. „Könntet Ihr den Kleinen etwas anheben, Mylord?“
Marcus ging auf die andere Seite des Bettes, hob den Jungen mit einem Arm sachte an und tastete unter dem Körper nach dem Verband, den Keelin ihm reichte. Ein heißer Schauer durchströmte ihn, als ihre Hände sich berührten.
Er schaute sie an und sah in ihrem Blick, dass sie Ähnliches verspürt haben musste. Geschwind zog sie die Hand zurück, befestigte den Verband geschickt und tat so, als hätte es diese Berührung nie gegeben.
Dies war nur zu vernünftig. Denn sie weilte nur vorübergehend in Wrexton Castle. Außerdem war sie die Frau, deren bloße Anwesenheit die keltischen Schurken anlockte. Und wenn sich die Mörder seines Vaters näherten, war Marcus bereit, sie gebührend zu empfangen.
Aber es ging auch etwas Seltsames von ihr aus. Marcus wusste, dass ihn die sonderbaren Fähigkeiten der jungen Irin verunsicherten. Nach wie vor hatte er nicht zu ergründen vermocht, wie es möglich war, dass Keelin demütig in Gebete vertieft war und ihn gleichzeitig vollständig in ihren Bann ziehen konnte. Denn er war verzaubert – ganz und gar. Aus diesem Grund hatte er sich am Nachmittag und Abend von dem Bergfried ferngehalten.
Keelin überprüfte, dass der Verband nicht zu stramm saß und tauchte dann ein sauberes Leinentuch in die Wasserschale. Sie schob Adams
Weitere Kostenlose Bücher