1725 - Hängt die Hexe höher
entgegen und sprach erneut mit dem Verstorbenen.
»Sollte mir noch mal so etwas passieren, möchte ich, dass du mich darauf hinweist, alter Junge. Ist das klar?«
Ein Windstoß fuhr über den Friedhof, spielte mit den frischen Blättern und sorgte für ein leises Rascheln.
Clara lächelte und schaute hinauf zum schiefergrauen Himmel. »Ja, ja, du hast mich schon verstanden, Greg. Aber ich verstehe noch immer nicht, dass du so plötzlich verschwunden bist. War doch gar nicht schlecht, unser Leben.«
Diesmal erwischte sie kein Windstoß. Die Zeit auf dem Friedhof war vorbei. Außerdem würde es bald dunkel werden, und da wollte sie zu Hause sein.
Es gab noch einen zweiten Weg, der sie zum Ausgang brachte. Er war etwas kürzer, und für den entschied Clara Duffin sich. Er führte durch den ältesten Teil des Friedhofs. Kein Mensch im Ort wusste, wann er angelegt worden war. Er war schon zu einem kleinen Wald geworden. Dort hatte man die Bäume wachsen lassen, deren Blätterkleid im Sommer tiefe Schatten warf. Clara Duffin kannte den Friedhof wie ihre eigene Küche. Hier war ihr nichts fremd, auch dieser zweite Weg nicht, und deshalb wunderte sie sich, dass dieses seltsame Gefühl noch nicht vorbei war. In ihrem Innern spürte sie wieder den Druck, der sich um ihren Magen gelegt hatte.
Den Grund verstand sie nicht. Auch nicht das ständige Kribbeln auf ihrem Rücken. Es kam ihr schon vor wie eine Warnung, aber das konnte es nicht sein.
Sie ging weiter. Schneller sogar. Zu beiden Seiten des Pfads lagen die Gräber, von denen nicht alle gut zu erkennen waren. Viele waren überwuchert, und da waren selbst die Grabsteine verschwunden. Auch die Luft hier kam ihr anders vor. Sie war feuchter und schwerer geworden.
Die Hälfte der Strecke hatte Clara Duffin hinter sich gelassen, als etwas sie irritierte. Den Blick hatte sie nach vorn gerichtet gehabt, und da sah sie etwas, was ihr überhaupt nicht gefiel und sie praktisch zwang, langsamer zu gehen.
Auf der linken Seite sah sie es. Da hing etwas über dem Boden. Zwei helle Stücke schauten aus etwas Dunklem hervor. Ihr war klar, dass es keine Zweige waren, denn was sie da sah, das sah sie auf keinen Fall als natürlich an.
Ohne das richtig gewollt zu haben, blieb sie stehen. Sie musste schlucken. Mit der Zungenspitze leckte sie über ihre trockenen Lippen und feuchtete sie an. Es gab nicht nur den Druck um den Magen herum, sondern auch einen Kloß in der Kehle. Ohne es genau gesehen zu haben, war ihr klar geworden, dass sie etwas sah, was nicht auf diesen Friedhof passte.
Ja, sie verspürte Furcht und dachte darüber nach, einen anderen Weg zu gehen.
Das tat sie nicht. Denn sie sah ja nichts Böses. Niemand dachte daran, sie anzugreifen, und deshalb ging sie weiter. Jetzt allerdings zögerlicher.
Die Luft kam ihr plötzlich noch dichter vor. Sie hörte sich selbst, wenn sie atmete, und ihr Blick war auf die linke Seite des Wegs gerichtet.
Immer näher kam sie dem Ziel.
Immer besser konnte sie sehen.
Sekunden später sah sie es genau.
Clara hatte den Kopf leicht angehoben, schaute so in die Höhe und sah vor sich den Körper einer Frau, deren Hals in einer Schlinge hing …
***
Clara Duffin hätte sich in diesem Augenblick die Dunkelheit oder zumindest die Dämmerung herbeigewünscht, aber den Gefallen tat man ihr nicht, und so war sie in der Lage, alles zu sehen, und das empfand sie als schlimm.
Zwei Beine hingen direkt vor ihren Augen. Sie schauten unter einem schwarzen Rocksaum hervor. Die Zehen waren verkrampft, die Hände der nach unten hängenden Arme waren geöffnet, als wollten die Finger im nächsten Augenblick nach irgendetwas fassen.
Dann wanderte ihr Blicke höher, und sie sah, dass die Frau mit einem dunklen Kleid angezogen war. Der Hals ragte aus dem Ausschnitt hervor. Sie sah auch die Schlinge, die darum hing. Sie war nicht besonders dick und hatte sich tief in die dünne Haut eingegraben.
Der Kopf war nach vorn gekippt. Dennoch schaffte Clara es, einen Blick in das Gesicht zu werfen, und dieser Anblick schockierte sie.
Das war kein normales Gesicht mehr. Für sie war es einfach nur eine Fratze. Sie zeigte das, was die Frau in den letzten Sekunden ihres Lebens durchlitten hatte. Clara konnte sich zwar nicht als Fachfrau ansehen, was diese Tötungsart anging, doch bei diesem Anblick ging sie davon aus, dass die Person noch lange um ihr Leben gekämpft hatte, bevor der Tod sie schließlich erlöste.
Die Zunge hing aus dem Mund und sah aus wie
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