1725 - Hängt die Hexe höher
ein alter Lappen. Das Gesicht war bleich und aufgequollen, und die Augen waren aus den Höhlen getreten. So jedenfalls sah es aus. Das Haar der Gehängten war fahlblond. Es hing strähnig an den beiden Kopfseiten herab.
Eigentlich wollte sie nicht mehr hinschauen. Sie tat es trotzdem. Der Anblick löste bei ihr eine schaurige Faszination aus, und sie musste sich schütteln, als der nächste kalte Schauer über ihren Rücken lief. Noch weigerte sich ihr Gehirn, das wahrzunehmen, was sie tatsächlich sah.
Sie wünschte sich, dass es sich um eine Halluzination handelte, doch sie wusste auch, dass es nicht so war.
Hier war jemand gehängt worden. Hier auf dem Friedhof. Eine Frau, die noch gar nicht so alt war.
Clara spürte, dass ihre Knie allmählich weich wurden und sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Als hätte sie ein erneuter Windstoß erfasst, verspürte sie plötzlich einen Schwindel, den sie nur ausgleichen konnte, indem sie sich an einem Ast festhielt.
Sie brach trotzdem zusammen, denn plötzlich drehte sich die Welt, und unter der Gehängten blieb sie liegen …
***
Irgendwann erwachte Clara Duffin wieder. Aber nicht, weil jemand sie gefunden und gerüttelt hätte, sondern weil sie etwas hörte, das wie Stimmen klang.
Clara war auf den Rücken gefallen, und diese Stimmen sorgten dafür, dass sie die Augen öffnete. Es fiel ihr nicht leicht. Auf ihren Lidern schienen Bleiplättchen zu liegen, und sie konnte auch nicht viel erkennen, denn die Zeit war fortgeschritten, und so hatte sich die Dämmerung über den Friedhof gelegt.
Clara dachte daran, aufzustehen, was sie jedoch nicht tat. Ihre Glieder schienen mit einer schweren Flüssigkeit gefüllt worden zu sein. Es gelang ihr nicht mal, die Arme und die Beine anzuziehen. Aber ihr Gehör funktionierte, und sie vernahm weiterhin die Stimmen irgendwelcher Personen. Sie waren nicht zu sehen, hielten sich aber in der Nähe auf, und wenn sich Clara nicht täuschte, dann waren es Frauen, die sprachen.
Eine musste in den Baum geklettert sein. Sie löste dort das Seil von dem starken Ast, dann fiel die Tote nach unten und wurde von mehreren Händen zugleich aufgefangen.
Das Gehör der Zeugin funktionierte jetzt besser. Sie verstand, was da gesagt wurde.
»Wir müssen sie sofort verschwinden lassen.«
»Und was ist mit der alten Frau?«
»Ach, die hat nichts gesehen und sie nur gefunden. Aber nicht, wer sie gehängt hat.«
»Gut.«
»Außerdem ist sie noch ohnmächtig.«
»Wenn du das sagst.«
Clara Duffin hatte alles gehört und rasch die Augen geschlossen, damit man ihren wahren Zustand nicht erkannte. Sie hoffte, dass der Kelch so schnell wie möglich an ihr vorüberging und die Frauen endlich verschwanden.
Clara öffnete die Augen einen Spalt, um etwas sehen zu können. Und sie erkannte, dass man die Tote angehoben hatte und wegschleppte. Die Gruppe verschwand in der grauen Düsternis des Friedhofs und ließ die Zeugin allein zurück.
Erst jetzt, wo sie allein auf dem Weg lag, traf sie der Schock. Sie begann zu zittern. Das fing an den Schultern an und breitete sich aus bis zu den Füßen. Sie war nicht fähig, sich zu erheben, und so musste sie weiterhin auf der kalten Erde liegen bleiben, bis dieser Anfall vorbei war.
Clara hatte sich immer als eine Person gesehen, die mit beiden Beinen im Leben stand, und sie gab sich selbst die Kraft zurück, indem sie sich ausschimpfte.
Sei keine Memme, verdammt! Komm hoch, man hat dich verschont. Du lebst noch. Sei froh. Es hätte auch anders ausgehen können.
Es war gut, dass sie sich selbst Mut gemacht hatte. So schaffte sie es tatsächlich nach dem zweiten Anlauf, sich aufzurichten. Der nahe Baumstamm diente ihr dabei als Stütze.
Sie blieb noch neben ihm sitzen und wollte so lange warten, bis sie wieder okay war und ihren Weg fortsetzen konnte.
Sie hatte die anderen Frauen eigentlich nur gehört und nicht gesehen. Jetzt schaute sie sich um, suchte Lücken und lauschte.
Die Frauen waren verschwunden. Sie hatten sich zurückgezogen, die Tote mitgenommen und würden auch so schnell nicht wieder erscheinen. Ihre Arbeit auf dem Friedhof war erledigt.
Clara blieb nicht länger neben dem Galgenbaum sitzen. Sie erhob sich, setzte ihren Weg fort und dachte darüber nach, was sie da erlebt hatte. Es kam ihr im Nachhinein wie ein Albtraum vor, doch es war keiner. Sie hatte die Realität erlebt, das war schlimm gewesen. Es musste ein Mörder unterwegs sein, der seine Opfer aufhängte – wie ein
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