1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Mülldeponie, das den heranrückenden Alliierten gute Deckung bot und in dem sich ein ungarisches Regiment eingenistet hatte, das von dort aus Macdonalds Stellung auf dem Kolmberg bedrohte. In den Turm der Kirche von Liebertwolkwitz, die im Gegensatz zu den meisten Gebäuden des Dorfs die heftigen Kämpfe der Völkerschlacht weitgehend unbeschädigt überstand, ist über der Glockenstube eine Kanonenkugel eingelassen – eine in der ganzen Umgebung beliebte Praxis, mit der die Bewohner, die noch bis heute immer wieder solche Relikte bei Arbeiten auf den Feldern oder bei Ausschachtungen finden, an die Völkerschlacht erinnern.
Der Weg führt von Liebertwolkwitz nach Güldengossa, eine schnurgerade, kaum befahrene neue Straße entlang, die zu DDR-Zeiten ausgebaut wurde, um den weiter südlich beginnenden Braunkohletagebau zu erschließen. Hier, mitten im Nichts der plattesten Ebene, in der nur die längs der Straße gepflanzten, stark durch Miniermotten geschädigten Kastanien einen Haltepunkt fürs Auge bieten, steht ein kleines Denkmalensemble, das eigentümlichste meiner ganzen vier Tage Spurensuche: wieder ein Apelstein, diesmal für den General Eugen von Württemberg, der von dieser Stelle aus gegen acht Uhr morgens am 16. Oktober 1813 mit seinen russischen und preußischen Truppen gegen Wachau vorrückte, dessen heutige Einfamilienhausreihen weit jenseits der Felder im Westen zu sehen sind, und ein Erinnerungsmal der ganz besonderen Art, das erst 1988 zum 175. Jubiläum der Völkerschlacht errichtet wurde, als die DDR im vorletzten Jahr ihres Bestehens die deutsch-sowjetische Waffenbrüderschaft mit Verweis auf das preußisch-russische Bündnis von 1813 historisch legitimieren wollte. Es ist ein Obelisk auf einem Sockel, mit einer Kugel als Abschluss und Inschriften auf Deutsch und auf Russisch. Immerhin sind auch der zaristische Doppeladler und das alte preußische Wappen als Schmuck angebracht worden.
Der Tag wird immer strahlender, im Nordwesten ist die Silhouette des Völkerschlachtdenkmals zu sehen, das in der Nähe zum einstigen Befehlsstand Napoleons vom 18. Oktober errichtet wurde. Von hier aus dürften es gut anderthalb Stunden Fußweg bis zum Denkmalkoloss sein, eine Strecke, die schon für sich genommen die riesigen Dimensionen des Schlachtfelds verdeutlicht, für die die Alliierten aber schließlich drei Tage brauchten, denn erst am 19. Oktober, als die Franzosen längst den Rückzug eingeleitet hatten, erreichten die verbündeten Truppen die Quandtsche Tabaksmühle. Davor standen die Schlachten bei Wachau und Probstheida und mehr als hunderttausend napoleonische Soldaten, die an diesem Abschnitt kämpften. Was für ein Vormarsch das gewesen sein muss, kann man erahnen, wenn man die monotone Ebene gen Leipzig betrachtet, in der man lange über freies Feld laufen müsste, um zur nächsten Ortschaft oder Baumreihe zu gelangen. Und dort hätten 1813 die feindlichen Schützen gelauert. Eugen von Württemberg wäre deshalb überglücklich gewesen, wenn seine Truppen vor hundertneunundneunzig Jahren ähnlich gleißendes Sonnenlicht gehabt hätten: Die Franzosen wären wenigstens geblendet worden.
Kurz geht es wieder über die Autobahn und über die Stadtgrenze, erst nach Güldengossa und dann nach Auenhain. Von der am 16. Oktober 1813 so heiß umkämpften Schäferei ist keine Spur mehr zu sehen, neben der Straße erstreckt sich jetzt der Markkleeberger See auf der Fläche des ehemaligen Tagebaus. Die Einfallstraße Richtung Leipziger Zentrum führt nach Wachau, den Fokus der Kämpfe am ersten Tag der Völkerschlacht. Doch das Einzige, was bei der Einfahrt in den Ort martialische Gefühle weckt, ist die riesige Reklame für eine Gulaschkanone, die aber offenbar längst abgerüstet wurde oder erst zur Mittagszeit ins Geschehen eingreifen wird. Es ist zehn Uhr morgens, und die Siedlung liegt still wie in der Nacht, eine Abfolge neu errichteter oder neu renovierter Häuschen. Der historische Kern von Wachau befindet sich unsichtbar links von der Bornaer Chaussee, die ihren Namen aus dem achtzehnten Jahrhundert bewahrt hat. Nichts verweist auf seine Existenz außer einem direkt an der Straße gelegenen schönen Eingang zu einem herrschaftlichen Gartengrundstück. Die beiden spätbarocken Pfeiler, die das breite Gitter halten, spielten in der Völkerschlacht eine wichtige Rolle, allerdings nicht an dieser Stelle. Es handelt sich um die letzten noch existierenden Spolien eines Leipziger Stadttors aus jener
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