1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Gründerzeit und nach der Jahrhundertwende überall in den neu hinzugekommenen Außenbezirken erschlossen wurden, sind in den Jahren seit 1939 größtenteils heruntergekommen. Erst herrschte zu Kriegszeiten Renovierungsverbot, dann Mangelwirtschaft im Sozialismus. Das ist immer noch besonders auffällig in den weniger feinen Stadtteilen, die vor allem im Osten Leipzigs liegen: Schon knapp hinter dem Innenstadtring, in Reudnitz, Volkmarsdorf, Schönefeld, Sellerhausen, Stünz, Anger-Crottendorf, Stötteritz, Mölkau und Paunsdorf, alles Orten mit furchtbarer Völkerschlachtvergangenheit, ist vom Aufschwung und vor allem der Verschönerung Leipzigs in den letzten Jahren nicht viel zu merken. Die Grenzen zwischen den Stadtteilen sind fließend, doch gemeinsam ist ihnen ein großer Teil unrenovierter, oft verlassener, nicht selten verfallener Wohngebäude.
Im äußersten Südosten der Stadt beginnt meine viertägige Suche nach den Stätten der Völkerschlacht. Ganz im Gegensatz zur Wettersituation vor hundertneunundneunzig Jahren steht ein strahlender Herbsttag bevor. Geregnet hat es schon seit Tagen nicht mehr, und die Tagestemperaturen werden sich bis zum Ende meiner viertägigen Begehung auf mehr als zwanzig Grad steigern – zum wärmsten deutschen Spätoktober seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Ob die Teilnehmer der Völkerschlacht solche Temperaturen für ideal gehalten hätten, darf man bezweifeln, denn sie kämpften in Uniform und mit schwerer Ausrüstung, aber angenehmer als das nasskalte Wetter des Oktobers 1813, das es so gut wie unmöglich machte, sich in den Nächten von den Kampfstrapazen zu erholen, wäre es allemal gewesen. Durch die Milde der letzten Tage hängt das Herbstlaub 2012 noch weitgehend an den Bäumen, während die Vegetation von den Regenstürmen in der Mitte des Oktobers vor hundertneunundneunzig Jahren teilweise schon entlaubt worden war, was die ohnehin spärliche Deckung im Umland von Leipzig noch weiter vermindert hatte.
Am 16. Oktober, dem Jahrestag der größten Ausdehnung der Schlacht, bin ich mit dem Auto unterwegs, und der Weg führt vom Leipziger Stadtzentrum hinaus über Probstheida nach Holzhausen. Gegen acht Uhr zeichnet sich dort an der Ortsausfahrt gen Osten eines der fünf Österreicherdenkmale gegen den nun endgültig aufgehellten Himmel ab. Sie wurden 1913 zur Hundertjahrfeier vom Kaiserreich Österreich-Ungarn an Stellen gesetzt, wo österreichische Truppen besonders entscheidend in die Völkerschlacht eingegriffen haben. Die anderen beiden Hauptverbündeten des Jahres 1813, Russland und Preußen, das seit 1871 das Deutsche Reich dominierte, zeigten zur hundertsten Wiederkehr des Ereignisses noch viel entschiedener den Willen zur Erinnerung. Russland errichtete unweit vom Thonberg, einer der wichtigsten und entsprechend heiß umkämpften Verteidigungsstellungen der Franzosen, eine orthodoxe Gedächtniskirche, die am 17. Oktober 1913 eingeweiht wurde. Zahlreiche Kaufleute hatten für diesen Bau gespendet, weil Leipzig nicht nur ein Erinnerungs-, sondern vor allem auch ein wichtiger Messeort war, an dem viele Russen vertreten waren und sich Symbolpolitik somit lohnte. Einen Tag später fand dann – in Anwesenheit Kaiser Wilhelms II. und des sächsischen Königs, der pikanterweise als Friedrich August III. den Namen seines vor hundert Jahren unterlegenen Vorfahren trug – die große deutsche Gedächtnisfeier statt, bei der das gigantische Völkerschlachtdenkmal der Öffentlichkeit übergeben wurde, das man etwas weiter stadtauswärts ebenfalls vor allem mit privaten Spenden errichtet hatte.
Der Vergleich der jeweiligen Erinnerungsästhetik der drei Siegerstaaten ist aufschlussreich: Das Deutsche Reich, das in den Ereignissen von 1813 seit der sechs Jahrzehnte später erfolgten Reichseinigung unter Ausschluss Österreichs vor allem einen Triumph des preußischen Beharrungswillens gegen Napoleon sah, setzte einen Koloss in die flache Landschaft, der Wehrhaftigkeit und Opferbereitschaft symbolisiert und noch heute in seiner Massivität unübersehbar ist, egal, aus welcher Richtung man sich der Stadt nähert. Russland stellte dagegen die Erinnerung an seine gefallenen Soldaten und die spirituelle Basis des Zarenreiches in den Mittelpunkt seiner Gedenkstätte: Die Kirche mit ihrer schlanken Gestalt und der goldenen Kuppel ist ein Richtungsweiser in den Himmel und ein Fingerzeig auf den göttlichen Beistand der Romanow-Dynastie. Auch das Völkerschlachtdenkmal trägt an
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