1813: Die Völkerschlacht und das Ende der alten Welt (German Edition)
Wachtberg nicht allzu viel verlorengegangen sein, denn mit seinen ehemals hundertvierundfünfzig Metern Höhe über dem Meeresspiegel erhob er sich gerade einmal fünfzehn bis zwanzig Meter über das Durchschnittsniveau der Umgebung. Immerhin elf Meter höher ist der Galgenberg an der Straße von Wachau nach Liebertwolkwitz, wo Napoleon sich während der Schlacht am 16. Oktober aufhielt. Aber was für ein kläglicher Anblick! Man bemerkt bei der einen Kilometer langen Anfahrt von Wachau kaum etwas von der Erhöhung, auf der natürlich auch ein Gedenkstein steht, der 1852 errichtet wurde. Er befindet sich rechts der Straße, und links liegt die künstliche Aufschüttung eines neuen Trinkwasserspeichers, der nun den eigentlichen Galgenberg deutlich überragt. Der Blick wird zusätzlich durch ein paar Bäume im Süden gehemmt, allerdings ist sonst die ganze Ebene zwischen Liebertwolkwitz und Wachau bis nach Güldengossa zu übersehen. Es ist halb elf, und Napoleon ist zu diesem Zeitpunkt vor hundertneunundneunzig Jahren genau hier gewesen. Auf der Rückseite des Denkmals ist eine winzige gravierte Platte eingelassen: «Hiob 38,11». Das immerhin hat ein witziger Mensch getan, denn die entsprechende Stelle des Alten Testaments lautet: «Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!» Ansonsten ist der Galgenberg der enttäuschendste Punkt der ganzen viertägigen Tour.
Das Schlachtfeld von Wachau aber wäre nicht komplett ohne einen Ausflug über Markkleeberg nach Dölitz, wo sich vom späten Vormittag des 16. Oktober an die Österreicher bemüht hatten, die Pleiße zu überqueren. Auch hier hat der Braunkohleabbau seine Spuren hinterlassen, die der Cospudener See zu kaschieren versucht. Von der versumpften Auenlandschaft, die den insgesamt achtundzwanzigtausend alliierten Soldaten des Generals Merveldt so gewaltige Schwierigkeiten bereitete, kann man sich jedoch auf dem Gelände des Agra-Parks – eines im späten neunzehnten Jahrhundert angelegten Landschaftsgartens, der heute von der auf Betonstelzen balancierenden vierspurigen Bundesstraße 2 zerschnitten wird – eine Vorstellung machen. Hier befand sich während der Völkerschlacht die einzige Pleißebrücke im Süden, die von den napoleonischen Soldaten nicht abgetragen worden war. Sie führte zum Rittergut Dölitz, einem im siebzehnten Jahrhundert errichteten Renaissanceschloss, in dem sich am 16. Oktober 1813 dreißigtausend polnische Soldaten unter General Poniatowski verschanzt hatten. Die Brücke wollten sie als Ausfallmöglichkeit nutzen, doch ein österreichisches Regiment konnte sie bereits am Vormittag erobern, und in der Folge belegte die polnische Artillerie diesen Punkt mit heftigem Beschuss, während die Österreicher durch das feuchte Terrain keine eigenen Kanonen herbeischaffen konnten. Zeugnis vom Kugelhagel legt das um 1670 erbaute Torhaus zum Renaissanceschloss ab, das einzige Relikt der 1947 nach Kriegszerstörungen abgerissenen Anlage. Gleich zehn Kanonenkugeln sind in die Fassade über dem früheren Wassergraben eingelassen, und im Inneren, in dem sich seit 1959 eine Zinnfiguren-Ausstellung mit Völkerschlacht-Schwerpunkt befindet, kann man sich seine eigenen Geschosse aus Schlachtfeldfunden kaufen. Die schlichte Musketenkugel ist für zwei Euro erhältlich, für das stattliche Zwölf-Pfund-Geschoss aus einer Kanone werden sechzig Euro fällig. Geöffnet ist das kleine Museum normalerweise nur von Mittwoch bis Sonntag, an diesem Jubiläums-Dienstag jedoch wird im Obergeschoss vor dem großen Diorama der Schlacht um Probstheida vom 18. Oktober 1813 gefilmt: Das Fernsehen begleitet eine Führung für eine kleine Schülergruppe. Da wird auch mir als einzelnem Besucher pragmatisch Einlass gewährt.
Die alliierten Truppen mussten sich am Nachmittag wieder über die Pleiße zurückziehen, nachdem ihr Kommandeur, General Merveldt, in Gefangenschaft geraten war. Auch am 18. Oktober wurde diese Gegend durch Poniatowskis polnisches Heer noch erfolgreich gegen die Österreicher verteidigt; erst nachdem es in der Nacht zum 19. Oktober den Abzug der französischen Hauptstreitmacht mittels heftiger Gefechte gedeckt hatte, gab auch Poniatowski diese Stellung auf. Nirgendwo haben sich Napoleons Truppen so hartnäckig gegen die Angreifer behauptet. Daran erinnert nicht nur ein Apelstein am Rembrandtplatz, der den Verteidigern gewidmet ist, die hier unter Poniatowskis Oberbefehl gekämpft haben, sondern im kleinen
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