1825 - Schreie aus dem Fegefeuer
denn nicht schon vernichtet? Ich sah dich nicht mehr als Mensch. Plötzlich erschien ein Skelett, als deine Verkleidung zerriss.«
Er ging nicht darauf ein und sagte: »Ich muss wieder zurück. Ich kann hier nicht länger bleiben. Ich bin nur Gast auf der Welt.«
»Auf welcher? Auf dieser?«
»Ja.«
»Und wo musst du hin?«
»Zurück in meine Heimat. Ich durfte nur einen Ausflug machen und bin dieser Hölle nur für kurze Zeit entkommen.«
»Hölle?«
»Ja, es ist so eine Art Vorhölle, die wir durchleiden müssen, bevor wir ins Licht gehen dürfen.«
»Aha. Und du bist befreit worden?«
»Nicht für immer.«
»Ja, das hörte ich bereits, nicht für immer. Es ist schon etwas rätselhaft, was ich hier hörte, und deshalb frage ich dich direkt. Bist du ein Mensch oder bist du bereits eine Kreatur der anderen Seite?«
»Such es dir aus.«
»Das tue ich auch. Bist du ein Mensch oder ein normaler Toter, der als Zombie lebt?«
»Was ist das?«
Ich winkte ab. »Schon gut, das bist du wohl nicht. Aber das könntest du sein, denn ich habe gesehen, dass mein Kreuz dir Angst eingejagt hat. Du stehst also auf der anderen Seite. Es kann sein, dass du dazu gemacht worden bist. Man hat dich geholt, man hat an etwas Bestimmtes gedacht, und zwar an das Fegefeuer.«
Da zuckte Meinhard zusammen. Ich hatte die richtige Wortwahl getroffen und jagte sofort eine Frage nach.
»Bist du aus dem Fegefeuer gekommen?«
»Ja.«
Mich überraschte es, dass ich so schnell ans Ziel gekommen war, und dachte jetzt über andere Fragen nach, deren Antworten mir Sicherheit bringen konnten.
»Das Fegefeuer«, sagte ich. »Wie gut, dass du es erwähnt hast. Wo kann ich es finden?«
»Ich fahre hin.«
»Aha. Ist es der Tunnel?«
»Ja.«
Jetzt wurde es sehr spannend, und ich fragte: »Was geschieht dort? Er ist doch nicht das Fegefeuer.«
»Nein.«
»Sondern?«
»Der Weg dorthin.«
»Aha.«
»Dort wartet er auf uns.«
»Und wer ist er?«
»Er sagt immer, er wäre jemand aus dem Totenreich. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen.«
»Wie sieht er aus?«
»Er ist schlecht zu beschreiben.«
»Warum?«
»Weil er kein richtiger Mensch ist.«
»Schön, das habe ich jetzt kapiert. Wenn er kein richtiger Mensch ist, dann ist er etwas anderes. Liege ich da richtig?«
»Ja.« Die Antwort hatte er zögernd gegeben.
»Weiter!«, forderte ich.
»Nein, das will ich nicht.« Er schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Wie groß ist deine Angst?«
»Ich käme mir wie ein Verräter vor.« Er verzog sein Gesicht, er greinte.
Mitleid ist so eine Sache. Mit einem normalen Menschen hätte ich bestimmt Mitleid gehabt, hier aber sah es anders aus. Dieser Meinhard war kein normaler Mensch. Er gehörte der anderen Seite an, wobei ich nicht wusste, welche es war.
»Es würde dir jetzt sehr schlecht ergehen, wenn du weiterhin deinen Mund hältst.«
»Ich darf nicht …«
»Doch, du darfst!«, hielt ich ihm entgegen. »Du darfst alles, was ich will.« Ich schüttelte ihn durch. »Oder willst du wieder zum Skelett mutieren?«
»Nein, nicht hier.«
»Aha. Dann rede. Ich habe gehört, dass er kein Mensch ist. Er muss also was anderes sein.«
»Ja, das ist er.«
»Und was ist er?« Ich drückte ihn noch weiter zurück und beugte mich dabei etwas vor. Ich lag praktisch auf ihm und unsere Gesichter befanden sich fast auf einer Höhe.
Meinhard öffnete den Mund. Dann würgte er seine Antwort hervor. »Es ist der Vogel …«
Ich hatte die Antwort gehört, aber ich wollte es noch mal genauer wissen.
»Wer ist das?«
»Ja, der Vogel.«
»Und wie sieht er aus?«
»Groß, groß, sehr groß. Er kann Menschen verschlingen. Er herrscht in dieser Welt.«
»Im Fegefeuer also?«
»Ja, so nennen wir es. Ich weiß aber nicht, ob das alles so stimmt. Aber es ist das Fegefeuer. Für uns …«
Ich ging nicht davon aus, dass dieser Meinhard gelogen hatte. Recht langsam richtete ich mich wieder auf, sodass auch er wieder aufrecht stehen konnte.
»Und was ist mit den anderen Menschen, die es noch bei ihm gibt?«
»Wir sind seine Gefangenen, wir sind Menschen. Er hat uns geholt, uns gesammelt. Wir sind die Verschwundenen, und du weißt selbst, wie leicht man hier auf der Welt verschwinden kann. Man registriert es zuerst noch, dann vergisst man den Menschen, er ist weg, als hätte es ihn nie zuvor gegeben.«
»Gut, das habe ich begriffen.« Ich gab ihm etwas mehr Freiheit. »Und wie sollte es bei dir weitergehen?«
»Das ist klar. Ich sollte wieder
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