Frau des Windes - Roman
Crookhey Hall
Auf der Tischdecke im Esszimmer vergrößern sich die Teller, die vier Kinder frühstücken Porridge, Patrick, der Älteste, Gerard und Arthur, nur Leonora mag keinen Haferbrei, doch das Kindermädchen Mary Kavanaugh sagt, dass sie in der Mitte des Tellers auf den Lake Windermere stoßen werde, Englands schönsten und größten See. Da nimmt das Mädchen den Löffel in die Hand und isst sich vom Ufer aus durch seinen Porridge vor, bis es plötzlich das Wasser plätschern hört und sieht, wie kleine Wellen sich auf der Oberfläche kräuseln – sie hat den Windermere erreicht.
Von den grünen Augen der drei Jungen gefallen ihr Gerards am besten, weil sie lächeln.
Das Esszimmer ist dunkel, so dunkel wie alles in Crookhey Hall. Seit Leonora klein ist, weiß sie, was Ruß ist. Vielleicht ist die Erde ja ein riesiger Schornstein. Tag und Nacht begleitet sie der Rauch aus den Textilfabriken von Lancashire, und ihr Vater ist der König der Schwärze, der Schwärzeste von allen, einer, der das Geschäftemachen versteht. Dunkel sind auch die Männer, die sie auf der Straße sieht. Ihr Großvater hat die Maschine erfunden, die Viyella herstellt, eine Mischung aus Wolle und Baumwolle, und die Firma Carrington Cottons ist in der Gegend, deren Luft sie mit ihrer Asche schwärzt, etwas Besonderes. Als Leonoras Vater, Harold Wilde Carrington, sie an Courtaulds verkauft, wird er zum Hauptaktionär von ICI , Imperial Chemical Industries.
In Crookhey Hall muss man viele Schritte gehen, um von der einen Seite zur anderen zu gelangen. In dem vornehmen Herrenhaus leben die Carringtons, Vater Harold, Mutter Maurie und Gerard, Leonoras jüngerer Bruder, der auch ihr Spielkamerad ist, anders als der zu große Patrick und der zu kleine Arthur. Zwei Scotchterrierwelpen, Rab und Toby, leisten ihr Gesellschaft. Leonora hockt sich vor Rab, um ihm in die Augen zu schauen, und ihre Nase berührt seine Schnauze.
»Läufst du auf allen vieren?«, fragt ihre Mutter.
Leonora pustet dem Hund ins Gesicht, und Rab beißt sie.
»Warum tust du das?«, ruft die Mutter erschrocken. »Du könntest eine Narbe davon bekommen!«
Wenn Erwachsene Kinder fragen, warum sie dies oder jenes tun, dann nur weil sie selbst keinen Zugang mehr finden zu der geheimnisvollen Welt, die Kinder und Tiere verbindet.
»Glaubst du denn wirklich, ich bin kein Tier?«, fragt Leonora ihre Mutter verblüfft.
»Doch, ein menschliches Tier.«
»Ich weiß, dass ich ein Pferd bin, Mama, ganz sicher, innen drin bin ich ein Pferd.«
»Ein Fohlen, würde ich sagen, denn du bist genauso ungestüm, du stürmst einfach auf Hindernisse los und überspringst sie. Aber was ich hier vor mir sehe, ist ein Mädchen im weißen Kleid mit einer Medaille um den Hals.«
»Du irrst dich, Mama, ich bin ein als Mädchen verkleidetes Pferd.«
Tartar ist ein hölzernes Schaukelpferd, auf dem sie, seit sie klein ist, mehrmals am Tag reitet. »Galopp, Galopp, Tartar.« Ihre schwarzen Augen funkeln, ihr Gesicht streckt sich, ihr Haar ist eine Rossmähne, wild springen die Zügel um ihren langgezogenen Hals.
»Mach Schluss, Prim«, sagt Nanny. »Du schaukelst jetzt schon eine Ewigkeit. Wenn du nicht absteigst, kommt dein Vater und legt dir die Trense an.«
Die Kinder haben Angst vor Harold Carrington. Sie leben in ihrem eigenen Reich, der Nursery, einmal am Tag begrüßen sie ihre Eltern. Manchmal holen die Erwachsenen sie zur Teestunde ins Wohnzimmer oder in die Bibliothek. Sie dürfen erst sprechen, wenn sie dazu aufgefordert werden. »Mit Zitrone oder mit Milch?«, fragt die Mutter, die Sheffield-Teekanne in der rechten Hand. Sie hat eine merkwürdige Angewohnheit: »Da hat sich gerade jemand das Kleid bekleckert«, sagt sie oder: »Ich sehe, dass jemand schwarze Tinte unter den Fingernägeln hat … Da kommt jemand beim Rühren mit dem Löffel gegen die Tasse … Da hält sich jemand nicht gerade …«, und alle vier Kinder richten sich gleichzeitig auf. Die Dienstboten sieht Leonora vorbeihuschen wie eine Brise, sie sprechen nicht mit ihr. Nur die französische Gouvernante Mademoiselle Varenne, das Kindermädchen und der Hauslehrer ihrer Brüder, der auch ihr Katechismusstunden erteilt, richten das Wort an sie.
Dafür fragen die Erwachsenen: »Wie geht es mit dem Lernen voran? Liest du mir das hier bitte mal vor?« Die guten Manieren versteifen die Wände, die großen Spiegel, die Hocker und die Ahnen an der Wand, von denen keiner einem je verschwörerisch zuzwinkert. Und
Weitere Kostenlose Bücher