1852 - Die Galornin
den vielen Jahren zum Zuhause geworden war. Die Tür war unverschlossen wie immer. Für Gäste und Freunde stand das Haus jederzeit offen, und Räuber und Diebe gab es in Baaken Bauu nicht.
Kaif wurde erwartet. Vor ihr stand jener große Galorne, der sie in der Kinderstadt vor der Bombe gerettet und ihr später Dinge gesagt hatte, die sie damals nicht verstand.
Die Galornin spürte, wie ihre Beine nachzugeben drohten. Sie glaubte, in der überwältigenden mentalen Ausstrahlung dieses Galornen untergehen zu müssen. Sie hörte sich Worte sagen, die keinen Sinn ergaben.
Dann kam er und nahm ihre Hand. Er drückte sie sanft auf ein Sitzkissen und hockte sich lächelnd ihr gegenüber auf den Boden. Trotz seiner Größe und seines Leibesumfangs bereitete es ihm keine Probleme. Seine Bewegungen wirkten unglaublich leicht.
„Es ist lange her, daß wir uns zum letztenmal begegnet sind, Kaif Chiriatha", sagte er mit seiner tiefen Stimme. „Doch ich habe dich keinen Moment aus den Augen verloren. Nach dem Spiel mit dem Drachen hatte ich kurze Zeit Angst um dich, doch Muum Dugesm hat mich nicht enttäuscht. Ich wußte, daß ich mich auf ihn verlassen konnte."
„Muum ... Dugesm?" fragte sie stockend.
Ihr dämmerte etwas. Es war, als sei sie ihr halbes Leben lang blind gewesen; habe einen schwarzen Vorhang vor dem Verstand gehabt, der sich jetzt langsam hob. Sollte er tatsächlich ...?
„Ja, Kaif", sagte er langsam und bedächtig. „Ich bin Ce Rhioton, der zweite Bote von Thoregon."
Sie erstarrte fast vor Ehrfurcht. Aus großen Augen sah sie ihn an. Dies war er! Der, auf den sie so lange sehnsüchtig gewartet hatte.
„Dann ... war dein Erscheinen in der Stadt der Kinder also kein Zufall", flüsterte sie. Sie seufzte. „Und, ja, wie mich die Erzieher nach unserer Begegnung angesehen und behandelt haben. Jetzt verstehe ich einiges ..."
„Das ist gut, Kaif", sagte der Bote. „Aber du verstehst noch nicht alles. Deshalb bin ich heute hier, Kaif.
Ich habe dich schon als Kind beobachtet wie viele andere Kinder auch, auf die meine Aufmerksamkeit fiel - und deinen Weg weiter verfolgt und ein wenig gelenkt." Er machte eine entschuldigende Geste. „Verzeih mir!
Es geschah im Interesse der Koalition Thoregon."
„Von ... Thoregon?"
Ihr Herz schlug schneller. Sie gab sich den mentalen Befehl zur Ruhe.
„Ich möchte dich bitten, Kaif Chiriatha, dich mit einem Gedanken vertraut zu machen - nämlich dem, eines Tages nach meinem Tod vielleicht meine Nachfolge anzutreten. Das kann einige hundert Jahre dauern, und diese Zeit wirst du brauchen, um zu einer würdigen zweiten Botin heranzureifen. Ich kenne dich und weiß, über welch einzigartiges Potential du verfügst. Es ist noch lange nicht erschöpft. Alles liegt nur an dir, doch ich kenne deinen Ehrgeiz und bin voller Zuversicht." Sie starrte ihn an, unfähig, ein Wort zu sagen, hörte seine Stimme wie vom anderen Ende von Plantagoo. „Bald wird das erste Heliotische Bollwerk abgeholt, und du wirst dich erneut beweisen können, indem du die Arbeit am zweiten lenkst. Und du wirst nach und nach all die Dinge erfahren, die du als Botin Thoregons wissen mußt. Du wirst Geduld aufbringen müssen, denn die Koalition ist noch im Aufbau und es könnte ihr schaden, wenn das wahre Wissen um sie zu früh zu vielen zugänglich gemacht würde."
Er erhob sich. Kaif fühlte sich wie in einem Strudel, alles drehte sich um sie herum. Seine Stimme war in diesem Moment ihr einziger Halt.
„Ich weiß jetzt, daß meine Wahl gut war", sprach er. „Für heute soll es genug sein, aber in Zukunft werde ich dich öfter besuchen und deine Sehnsucht nach Wissen stillen. Geh deinen Weg, Kaif Chiriatha - und lebe wohl ..."
Sie hörte nicht, wie er ging. Sie war unfähig, ihn hinauszugeleiten.
Als sie dann endlich den Bann abstreifen konnte und ihm nachlief, sah sie nichts mehr von ihm.
Er war abermals gekommen und gegangen wie ein Phantom, und sie fragte sich, ob es nicht nur ein Traum gewesen sei.
Aber als sie ins Haus zurückkehrte, da spürte sie seine Aura, und ein Teil dieser Aura war sie.
Ihre Vergangenheit, ihr heutiges Leben, ihre Zukunft.
Und diese Zukunft hieß Thoregon, das wußte sie nun mit letzter Gewißheit.
Es war so sicher wie das junge Leben, das sich in ihrem Leib rührte.
ENDE
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