Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
war, darum fuhr der Hadschi in zwar milderem aber doch nachdenklichem Tone fort:
    „Was verstehst du überhaupt vom Christentum! Kennst du das Kitab el mukaddas (Bibel) der Christen?“
    „Nein“, gestand der Oberaufseher.
    „Hast du es gelesen und studiert?“
    „Wenn ich das hätte, würde ich es doch kennen!“
    „So kannst du also auch nicht über die Christen sprechen. Den Koran kennst du; also ist es dir erlaubt, von der gegenseitigen Feindschaft seiner Bekenner zu reden, und die ist so groß, daß du dich gar nicht um die Christen zu bekümmern brauchst!“
    Da klang es hinter den Vorhängen des Tachterwahn hervor:
    „El Mizan, el Mizan, die Waage der Gerechtigkeit!“
    Hanneh schlief also auch noch nicht. Sie hatte alles gehört und rief ihrem ‚Gebieter‘ jetzt das Mahnwort zu.
    „Was ist's mit El Mizan?“ fragte er.
    „Hast du den Effendi nicht gebeten, dich mit diesem Worte zu warnen, wenn du zornig wirst?“
    „Ja, das habe ich allerdings.“
    „Darum habe ich es dir zugerufen, denn du bist jetzt gegen Khutab Agha, den Basch Nazyr von Meschhed Ali, unwillig gewesen!“
    Da antwortete er in seinem freundlichsten Tone:
    „O Hanneh, du anmutigste der schönen Lieblichkeiten, nimm meinen Dank für die Aufmerksamkeit, welche du deinem Halef erweisest! Doch bitte ich dich um die Erlaubnis, dir mitzuteilen, daß du nicht der Effendi bist. Er allein ist's, der mich warnen soll; das ist ein Recht für ihn, welches du ihm nicht nehmen darfst. Wenn zwei Personen an meinem Zorne rütteln, so wird er größer anstatt kleiner. Und außerdem war es gar kein Zorn, sondern die Liebe und Freundschaft, welche mir gebieten, mich dessen anzunehmen, dem in Gemeinschaft mit dir und unserm Sohn mein ganzes Herz gehört. Und nun versuch, zu schlafen, du Liebling meiner Seele! Das ist für dich und mich ja stets das beste, was du tun kannst, wenn du mich für zornig hältst, Leletak mubaraka – es sei deine Nacht gesegnet. Amin – amen!“
    Sie entgegnete nichts, sondern antwortete nur mit einem kurzen, lustigen Lachen, welches er so gerne von ihr hörte. Dann sagte er leise zu uns:
    „Horcht! Sie lacht! Wie hübsch und gut das klingt, wenn eine brave, liebende Frau fröhlich ist! Es gibt Weiber, welche stets die Gesichter des sauren Essigs machen. Genau so wie ihr Äußeres ist bei ihnen auch ihr Inneres, das einem verfinsterten Zelte gleicht, in welchem man nicht findet, was man sucht; sie verwandeln den Tag ihres Lebens für sich und andere in Nacht. Das Gemüt einer heiteren Frau aber ist der Quell des lichten, warmen Sonnenscheins für ihren Mann, für ihre Kinder und auch für alle, mit denen sie in Berührung kommt. So einen Quell des Frohsinns und des Glücks habe ich in meinem Frauenzelt. Allah segne Hanneh, deren Herz der Ursprung ist, aus welchem er fließt! Sie wird nun schlafen. Wollen wir das nicht auch tun, Sihdi? Die Nacht ist kurz, und wer weiß, welche Anstrengungen uns der morgige Tag bringt!“
    Er hatte recht, obgleich er ebenso wenig wie wir ahnte, daß dieser Tag ein viel bewegterer für uns werden sollte, als wir jetzt dachten. Wir versuchten, die durch Ben Nur in uns erweckten, lebhaften Vorstellungen zur Ruhe zu bringen, was uns schließlich auch gelang, wir schliefen ein. Aber die Sorge weckte mich schon wieder auf, als der Morgen sich im Osten durch seinen immer heller werdenden Schein verkündete. Halef, Hanneh, Kara, der Münedschi und der Perser schliefen noch. Ich weckte sie nicht, stand auf und entfernte mich mit leisen Schritten, um zunächst die Kette unserer Posten abzugehen. Da erfuhr ich, daß die Nacht ohne jedwede Störung vergangen war; es hatte sich kein Ben Khalid sehen oder hören lassen. Hierauf ging ich nach dem Brunnenplatz und erfuhr zu meiner Genugtuung, daß unsere Kamele und Pferde alle getränkt worden waren. Das Wasser war nicht schlecht, wie ja schon der Name des Brunnens sagte – Bir Hilu bedeutet ‚süßer Brunnen‘ – und so konnten wir ihnen heut einen ausgiebigen Ritt zumuten. Der Scheik der Beni Khalid und die Mekkaner hatten nicht geschlafen, was allerdings auch ganz erklärlich war. Die letzteren verhielten sich still, doch war ihnen der Grimm über ihre Lage sehr deutlich anzusehen, und aus den Augen El Ghanis blickte mir ein Haß entgegen, welcher mich sofort getötet hätte, wenn es wirkliche und nicht bloß seelische Blitze gewesen wären. Tawil Ben Schahid aber war dieser Schweigsamkeit nicht fähig. Kaum sah er mich herantreten, so

Weitere Kostenlose Bücher