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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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anderen kam, wohlgemut und mit vorangetragenem Panier, und Ben Nur immer und immer wieder sagte, daß ihnen allen der Abgrund beschieden sei, da packte mich ein Grauen, für welches es keine Worte gibt. Sihdi, mir soll dereinst keine stolze Standarte vorangetragen werden, sondern ich will in Demut nach der Waage wandern; denn ich habe mir das Wort gemerkt, daß Allah den Demütigen Gnade gibt. Darum bitte ich dich: Wenn mich der Hochmut und der Stolz wieder einmal, was sie doch so oft tun, bei meinem Zorne packen, und wenn ich überhaupt im Begriff stehe, etwas zu tun, was gegen die uns heute verkündigte Liebe ist, so rufe mir ja schnell ‚El Mizan, die Waage!‘ zu; dann wirst du sehen, daß ich sofort in mich gehe, um meinem Zorn die Bastonade zu geben, welche die Mekkaner nun nicht bekommen werden! Willst du das tun?“
    „Sehr gern!“
    „Ich wollte, ich könnte so einen Warner auch stets bei mir haben!“ sagte der Perser. „Ich habe bisher nur mich geliebt, keinen andern Menschen; von heute an aber soll es anders werden! Sag', Effendi, spricht euer Christentum auch von der Liebe?“
    „Nur von ihr!“ antwortete ich.
    „Nur? Wirklich? Ich habe aber bei den Christen, welche ich bisher traf, keine gefunden!“
    „So will ich dir jetzt eine Sure unseres heiligen Buches sagen. Höre!“
    Ich zitierte das dreizehnte Kapitel des ersten Briefes Pauli an die Korinther. Er hörte andächtig zu und rief, als ich zu Ende war, aus:
    „Das ist ja ganz so, als ob Ben Nur diese Sure auch so auswendig könnte wie du! Welch ein Wunder! Er hat immer ganz nach diesen herrlichen Worten gesprochen, und doch hat unser Koran eine solche Sure nicht! Darum also, darum dieser Haß, dieser Kampf und Streit bei uns! Darum der gegenseitige Abscheu zwischen den Schiiten und Sunniten, und bei diesen wieder die ununterbrochene Feindschaft zwischen den Schafe'iten, den Hanefiten, den Hanbaliten und den Malekiten! Es fehlt die Liebe, nur allein die Liebe; Allah bessere es! Wie herrlich wäre es auf Erden, wem die Liebe wirklich und allein die Regierung hätte! Aber, Effendi – – –“
    Er stockte, überlegend, ob er weitersprechen solle; dann fuhr er fort:
    „Habt ihr eine große einige, eine ganze Christenheit?“
    „Leider nicht!“
    „Ja, ich weiß es; ich wollte nur hören, ob du es aufrichtig eingestehen werdest. Es gibt bei euch Katulikijihn, Rum, rum Katulikijihn, Ingilijihn, Mawarne, Protestanijihn (Katholiken, griechisch Orthodoxe, griechische Schismatiker, Evangelische, Maroniten, Protestanten) und noch viele andere Spaltungen, deren Namen ich nicht kenne. Ich will dich nicht betrüben; aber beim Islam ist die Zwietracht kein Wunder, weil der Koran keine solche Sure der Liebe kennt; ihr jedoch habt sie in eurem heiligen Buch stehen und kämpft trotzdem in noch mehr Heerlagern gegeneinander als wir! Ist da diese Sure in eure Herzen oder nur in euer Buch geschrieben? Seid ihr da nicht noch schärfer anzuklagen und nicht noch viel mehr zu bedauern als wir?“
    Ich hätte mich wirklich in größter Verlegenheit befunden, was ich auf diese nur zu wohlbegründeten Vorwürfe antworten sollte, wenn mir nicht, dies ahnend, der wackere Hadschi schnell beigesprungen wäre:
    „Was fällt dir ein, meinen Effendi so schwer zu beleidigen! Kann er dafür und trägt etwa er die Schuld daran, daß diese Sure bei so vielen Christen nicht da wohnt, wo sie wohnen soll? Ich sage dir, er schreibt Bücher, welche gedruckt und dann von vielen Tausenden gelesen werden. Er braucht nur ein einziges Mal die Bitte hineinzubringen, daß sie einig sein und sich einander lieben sollen, so tun sie es sofort und auch von ganzem Herzen gern! Ich weiß das so gewiß, wie ich überzeugt bin, daß diese Liebe ihn und mich verbindet!“
    Er hielt inne, um den Eindruck seiner Verteidigung zu beobachten. Was aber dachte ich? Ich war still, sehr still!
    Lieber Halef! Und wenn ich auch mit Engelszungen redete und meine Bücher mit einer Engelsfeder schriebe, meine Worte würden doch erfolglos verklingen, bis die Zeit kommt, welche kommen wird und kommen muß, weil sie die Zeit der Verheißung ist. Es wird dann nur ein Hirte und eine Herde sein! Aber wann? Sollen wir die Hände wartend in den Schoß legen und Gott allein walten lassen? Können wir denn nichts, gar nichts tun, diese Einigung herbeizuführen?!
    Der Perser antwortete nichts. Er sah wohl ein, daß sein Vorwurf mich persönlich hatte treffen müssen, obwohl das nicht von ihm beabsichtigt gewesen

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