Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
sie sich hassen, sich anfeinden, sich verleumden und verfolgen! Wie sie sich gegenseitig nach den Fehlern spüren, um einander so viel wie möglich herabsetzen und in Schaden bringen zu können! Welche Freude, welchen Hohn, welche Selbstherrlichkeit gibt es da, wenn wieder einmal ein Fehler entdeckt worden ist! Dazu kam die Traurigkeit meiner persönlichen Erfahrungen, meines eigenen Schicksales. Ich mochte nichts mehr wissen von einem Glauben, welcher Liebe lehrt, während seine Bekenner die – lieblosesten Menschen des ganzen Erdballes sind. Die Bibel der Christen sagt, daß man den Menschen an seinen Werken erkenne, und aber ich sagte, daß auch der Glaube an seinen Früchten, an seinen Werken zu erkennen sei, und da diese Früchte nichts als Haß, Streit, Neid und Egoismus waren, so war es kein großer, kein schwerer Entschluß von mir, in der Moschee zu suchen, was ich in der Kirche nicht fand.“
    „Und hast du es da gefunden?“ fragte ich.
    Wie gern, wie so sehr gern hätte ich ihn noch ganz anders gefragt und ihn einmal so recht fest zwischen meine Hände genommen! Aber ich mußte mich auf diese eine kurze Frage beschränken, denn zu weiten Auseinandersetzungen war jetzt keine Zeit, und da ich zu verschweigen hatte, daß ich ein Christ war, so mußte ich darauf bedacht sein, mein Herz nicht mit dem Verstand durchgehen zu lassen. Er war ein Überläufer, und man weiß ja, daß der Fanatismus bei den Renegaten am größten und gefährlichsten ist. – Er antwortete nicht gleich, sondern erst nach einer Weile:
    „Ich habe dieses Gespräch mit dir nicht begonnen, um das Christentum mit dem Islam zu vergleichen. Du hast ja bereits gehört, daß ich nur einen einzigen Menschen gefunden habe, der mir das entgegenbrachte, was ich suchte – Liebe. Diesem Manne habe ich es zu verdanken, daß ich überhaupt noch existiere; er hat mich materiell, geistig und seelisch neu geschaffen, und so habe ich mich ihm ergeben, mit allem was ich bin und was ich habe, mit meinem Körper, meinem Herzen, meiner Seele, meinem ganzen Leben!“
    „Und wer ist dieser Mann?“
    „Abadilah.“
    „Der Schech el Harah von Mekka, den man El Ghani nennt?“
    „Ja. Ich will dich etwas fragen. Darf ich?“
    „Ja.“
    „Wirst du mir die Wahrheit sagen?“
    „Ich lüge nicht.“
    „Versprich es mir!“
    „Ich gebe dir hiermit mein Wort!“
    Ich gab ihm dieses Versprechen, obwohl ich vermutete, daß er beabsichtige, nach dem Ghani zu fragen. Wie unendlich leid tat mir dieser arme, alte, blinde Mann! Daß er vom Christentum zum Islam übergetreten war, hielt ich natürlich für die größte Sünde seines ganzen Lebens, aber ich war es nicht, der darüber zu rechten und zu richten hatte. Vor mir saß er hier und jetzt nicht als Renegat, sondern als unglücklicher Mensch, und da mußte ich ein unbeschreibliches Mitleid mit ihm fühlen. Der, dem er sich, wie er selbst sagte, mit seinem Körper, seinem Herzen, seiner Seele, seinem ganzen Leben ergeben hatte, war ein Schurke, ein Halunke, von dem er in einer Weise ausgebeutet wurde, für welche das Wort abscheulich noch viel zu mild, zu rücksichtsvoll klang! Durfte ich ihm sagen, was geschehen war und was wir von dem, den er so liebte und verehrte, wußten? Mußte ich ihn nicht schonen? Konnte ihn diese letzte, größte aller Täuschungen nicht sofort in den Abgrund werfen, den Ben Nur ihm gestern gezeigt hatte?
    „Ich habe vorhin die Stimme meines Beschützers, meines Wohltäters, meines einzigen Freundes gehört“, fuhr er fort. „Sag, ist er hier?“
    „Ja“, antwortete ich.
    „Hier am Bir Hilu?“
    „Ja.“
    „Hat er mich gesehen?“
    „Erst vorhin, als er dich rief.“
    „Warum kommt er nicht her zu mir?“
    „Er und seine Begleiter hielten dich für tot; sie haben dich begraben und sind hierhergeritten. Sie erschraken, als sie dich so plötzlich sahen; sie hielten dich für einen Geist.“
    Während ich mit diesen Worten hin und her lavierte, suchte ich nach einer Weise, ihm die Wahrheit so schonend wie möglich, und zwar allmählich, mitzuteilen. Der Perser rückte auf seinem Platz ungeduldig hin und her. Er dachte jetzt nicht an die Pflicht gegen den Blinden, sondern nur an den Diebstahl und an die Behandlung, die ihm geworden war. Ich bat ihn durch einen Blick, sich zu beherrschen, fand aber leider keine Erhörung.
    „Ich bin kein Geist, kein Gespenst“, sagte der Alte. „Ich will ihn bei mir haben, ihn, seinen Sohn und auch die andern. Ruft sie her!“
    Da brach

Weitere Kostenlose Bücher