19 - Am Jenseits
ich mich nicht. Wir konnten nicht anders, denn der Blinde ist sein eigener Herr, und wir haben kein Recht, gegen seinen Willen über ihn zu verfügen. Was hätten wir mit ihm machen können, wenn er gezwungen gewesen wäre, bei uns zu bleiben?“
„Ihn mit nach Mekka nehmen.“
„Und dort?“
„Ich zweifelte gar nicht daran, daß es uns dort gelingen würde, ihn besser unterzubringen, als er jetzt untergebracht ist.“
„Das denke ich auch. Und hätten wir keinen geeigneten guten Platz für ihn gefunden, nun, so gibt es unter den Zelten der Haddedihn genug Raum für einen blinden Mann, dessen Anwesenheit gar keine Opfer fordert. Dieser Münedschi wird nicht lange mehr leben; er steht dem Jenseits näher als der Erde. Seine Seele war ja bereits fast an der Brücke. Und was alles hätten wir von ihm noch erfahren können!“
„Bist du neugierig geworden?“
„Nicht neu-, sondern wißbegierig.“
„Und glaubst du, daß dieses Wissen dir und deinem Stamme Nutzen bringen würde?“
„Ja. Wenn das Erdenleben eine Vorbereitung für den Himmel ist, so ist es ja Pflicht, jede Gelegenheit zu ergreifen, etwas über das Jenseits zu erfahren.“
„Du meinst, etwas Wahres!“
„Hältst du das, was wir gestern gehört haben, für Täuschung?“
„Ich kann mir darüber heute noch kein Urteil erlauben. Wenn der Blinde zu uns anstatt zu seinem vermeintlichen Wohltäter gehalten hätte, wäre uns wahrscheinlich mehr Stoff zu einem Urteile geboten worden, als wir jetzt besitzen. Wir wollen also den Gedanken an das Jenseits jetzt nicht weiter verfolgen und uns lieber mit dem Diesseits befassen.“
„Ja, das ist für den Augenblick wohl ebenso nötig. Was denkst du, daß zunächst geschehen soll?“
„Wir sind gewillt, die Diebe nicht zu bestrafen, werden sie also freigeben, selbstverständlich den Scheik der Beni Khalid auch. Doch darf das nicht so ohne weiteres geschehen. Wir haben uns sicherzustellen, daß, wenigstens solange wir uns hier befinden, nichts gegen uns unternommen wird. Später dann können wir anderweit für uns sorgen.“
„So schlage ich vor, daß wir den Scheik erst dann loslassen, wenn er geschworen hat, hier nichts gegen uns zu unternehmen.“
„Das werden wir allerdings tun.“
„Sag, Sihdi, gibt es für uns keine andere, keine bessere Gewähr als nur seinen Schwur?“
„Nein; wenigstens ich weiß keine. Du etwa?“
„Nein.“
„Oder Khutab Agha?“
„Auch ich weiß nichts anderes“, antwortete dieser. „Ihr habt mich zu eurem Freund gemacht, und meine Dankbarkeit gehört euch, solange ich lebe. Darum kann es mir nicht gleichgültig sein, ob euch noch fernere Gefahren von seiten der Beni Khalid drohen. Sonst aber wäre ich mit meiner Angelegenheit hier zu Ende. Die gestohlenen Glieder habe ich hier zurückbekommen, und meine Asaker sind auch wieder frei. Wir brauchen also nur aufzusitzen und heimzukehren.“
„Wann wirst du das tun?“
„Wenn auch ihr fortreitet; eher natürlich nicht.“
„Nun, und wir, Sihdi? Wann reiten wir?“
„Wenn die Beni Khalid fort sind“, antwortete ich.
„Früher nicht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Du scheinst mich nicht mehr zu kennen, Halef!“
„Was? Wie? Ich dich nicht mehr kennen? Oh, Effendi, was treibst du da für Allotria! Du weißt doch ganz genau, daß ich dich besser kenne als mich selbst!“
„Nach deiner letzten Frage muß ich das aber bezweifeln, denn du hast einen Brauch vergessen, der so zu mir gehört, wie der Griff zum Säbel.“
„Welchen Brauch?“
„Mich stets und so viel wie möglich rückenfrei zu machen. Dieser Gewohnheit haben wir so viele Erfolge zu verdanken, lieber Halef, daß es mir gar nicht einfallen kann, grad hier, in dieser gefährlichen Wüste, von ihm abzuweichen.“
„Rückenfrei? In Beziehung auf die Beni Khalid?“
„Ja. Wenn wir eher fortreiten als sie, haben wir sie im Rücken und wissen nicht, was sie hinter uns vornehmen. Sind sie aber vor uns, so können wir sie, solange dies nötig ist, derart im Auge behalten, daß es ihnen unmöglich wird, uns ernsthaft zu belästigen. Das siehst du wohl ein?“
„Welche Frage! Wenn ich das nicht einsähe, so wäre ich ein Fluß ohne Wasser, ein Pferd ohne Beine oder eine Feder ohne Tinte und meinetwegen auch eine Hanneh ohne Halef! Nur weiß ich nicht, ob die Beni Khalid darauf eingehen werden.“
„Sie müssen!“
„Wie willst du sie zwingen?“
„Dadurch, daß wir sie nicht an den Brunnen lassen. Wenn sie überzeugt sind,
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