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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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wußte nicht, was das war; es machte mich elend und krank. Da, da hörte ich es heut, heut zum erstenmal, das große, das herrliche Wort von der Liebe! Nicht von der Liebe, wie ich sie bisher gekannt habe, sondern von einer höheren, reineren, edleren Liebe, von der Liebe, die Himmel und Erde verbindet und die Menschen zu Brüdern, zu Kindern Gottes macht. Das ist es, wonach ich suchte, ohne es zu kennen; das ist es, wonach sich meine Seele sehnt; das ist es, dem sich mein leeres Innere schon längst öffnen wollte, um von ihm ganz, ja ganz erfüllt zu werden! Ich will es haben; ich muß es haben; darum bin ich hierhergekommen, denn ihr habt es; ihr habt diese Liebe; ihr übt diese Liebe, und nur von euch, von euch kann ich sie bekommen. Darum, nur darum habe ich euch überrumpelt und überfallen! Nicht den Kanz el A'da will ich nun. Erst, ja erst wollte ich ihn, und ich hätte ihn mir geholt, und wenn ich alle Beni Khalid und alle Haddedihn hätte erschießen müssen. Nun ich aber von eurer Liebe gehört habe, verzichte ich auf diesen armseligen ‚Schatz der Glieder‘ und will nur sie, nur sie! Sagt, kann ich sie bekommen? Wollt ihr sie mir geben?“
    Er war aufgesprungen und hatte nach und nach immer lauter und lauter gesprochen, als ob er seine Sehnsucht über alle Höhen und über alle Berge und Täler, über die ganze Wüste hinausschreien wolle. Das war jener Schrei, von welchem die heilige Schrift sagt: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so verlangt meine Seele, o Gott, nach dir!“ Diese Sehnsucht geht durch die ganze Schöpfung, durch die ganze Erdenwelt, durch die ganze Menschheit. Grad in der heutigen Zeit ist es lautes Schreien nach Liebe; aber die, denen es gilt, die wollen es nicht hören! Nicht nur aus menschlichem Mund, sondern auch von den Lippen des unter dem unbarmherzigen Messer gemarterten Tieres ertönt dieser Jammerschrei. Nicht nur der Mensch, sondern auch die fälschlicherweise ‚leblos‘ genannte Kreatur wartet auf die Erlösung. Gebt sie ihr; o gebt sie ihr! Gebt ihr Liebe, Liebe, Liebe! Lacht um Gottes willen nicht, wie der Ghani, über diese Liebe, denn was ihm gesagt wurde, das sage ich auch hier: Die Liebe lächelt nicht immer! Sie bittet, und was man ihr versagt, was man ihr von ihren Rechten vorenthält, das holt und nimmt sie sich mit unwiderstehlicher Gewalt, nachdem sich ihre linde, milde Hand in die strafende Faust des Zorns verwandelt hat! Gebt also Liebe aus Liebe, und wartet nicht, bis ihr aus Zwang geben müßt, was mit eiserner Strenge von euch gefordert wird!
    Die Worte des Scheiks Abd el Idrak hatten uns so ergriffen, daß keiner von uns sogleich die doch so leichte Antwort gab. Da wiederholte er mit derselben lauten Stimme seine Frage:
    „Sagt, kann ich sie bekommen? Wollt ihr sie mir geben?“
    „Ja, von Herzen gern!“ antwortete ich nun.
    Da drehte er sich um und warf seinen Leuten den Befehl zu:
    „Macht sie frei! Bindet sie alle los, sofort, augenblicklich!“
    Es war gewiß nicht vorher besprochen worden, aber ganz so schnell und einmütig, als ob es so verabredet worden sei, beeilten sich die Beni Lam, dieser Weisung nachzukommen. Im Handumwenden, wie man zu sagen pflegt, waren alle unsere Haddedihn ihrer Fesseln wieder los. Dann rief der Scheik:
    „Diese tapferen und ehrlichen Krieger der Haddedihn sind von diesem Augenblicke an die Brüder und Gäste unseres ganzen Stammes! Ihre Freunde gelten als unsere Freunde, und ihre Feinde werden als die unsrigen behandelt. Ich habe es gesagt, Abd el Idrak, der Scheik der Beni Lam!“
    Er reichte uns seine Hand, die wir ihm recht herzlich, aber auch ganz und gar herzlich schüttelten! Wer solche Szenen nicht erlebt hat, der ahnt gar nicht, welche Reichtümer ein Menschenherz in sich trägt! Und seine Leute taten mit. Das war ein Drücken und Schütteln der Hände, welches kein Ende nehmen zu wollen schien. Als sich die frühere Ruhe einigermaßen, wenn auch nicht ganz, wieder eingestellt hatte, ergriff unser Gastfreund, der Scheik, von neuem das Wort:
    „Ihr werdet die Ursachen meines Verhaltens jetzt nur halb verstehen; ich will es euch nun aber ganz erklären! Ihr wißt, daß wir die Spur des Ghani fanden und ihr folgten. Dort sitzt er und hört alles, was ich sage; das mag eine Verschärfung seiner Strafe sein, und Allah gebe, daß die Härte seines Herzens unter ihr nun endlich einmal zu schmelzen beginne! Nach längerer Zeit führte diese Fährte zwar von unserer Richtung ab, aber so wenig, daß

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