19 - Am Jenseits
recht; es ging mir grad so wie ihm. Ich hatte wohl noch selten ein so schönes, Ehrfurcht gebietendes Greisenangesicht gesehen, noch jetzt, im Tode, schön!
„Er hat nicht das Aussehen eines Toten, sondern eines Schlafenden“, fuhr Halef fort, „eines Schlafenden, der von Allahs Himmel träumt. Sieh, wie er selig lächelt!“
Es ist nach meinen Erfahrungen mit diesem sogenannten ‚seligen Lächeln‘ der Verstorbenen eine ganz eigene Sache, denn ich habe es am ausgeprägtesten, am ergreifendsten bei Personen gefunden, deren Ende ein gewaltsames gewesen war. Ich habe in den Zügen im Kampfe Gefallener kurz nach ihrem Tode den sprechendsten Ausdruck des Hasses, des Grimmes, der Angst, des physischen Schmerzes gesehen, und dann wahrgenommen, daß dieser Ausdruck sich sehr bald in denjenigen der Milde, der Ruhe, des Friedens verwandelte. Und wiederum sah ich Leute so sanft und kampflos hinüberschlafen, daß ich mir wünschte ‚so möchte einst auch dein Tod sein!‘, und dann nahmen ihre Gesichter nach und nach das Gepräge seelischer Angst oder körperlicher Pein, des Leidens an. Sollten die Affekte oder Stimmungen, welche im Augenblicke des für uns sichtbaren Sterbens vorherrschend sind, nur deshalb keine nachhaltige Wirkung hinterlassen, weil die eigentliche Trennung der Seele von dem Körper erst später, von uns unbemerkbar, erfolgt und der Geist erst dann das, was ihn bei diesem endgültigen Scheiden bewegt, zum Troste oder zur Warnung für die Hinterbliebenen auf das Angesicht schreibt? Diese Frage gehört auch zu denen, welche wir Lebenden wohl aussprechen, aber nicht beantworten können.
Indem ich die Züge des Münedschi betrachtete, fiel mir die Färbung des Gesichtes auf; sie war blaß und totenähnlich, dabei aber von einem so eigentümlichen Ton, daß ich aufmerksam wurde. Ich legte die Hand an seine Wange und fühlte, daß sie kalt war. Ich entfernte den Sand von den Armen und den Händen; diese letzteren hatten auch die Kälte des Todes. Nach der Trübung der Augen sah ich nicht, da ich ja gehört hatte, daß der Münedschi blind gewesen war. Leichengeruch gab es nicht, doch war die Todesstarre eingetreten, die aber ebenso wie die Kälte und die Veränderung der Hornhaut des Auges kein unzweifelhafter Beweis des wirklich eingetretenen Todes ist. Ich forderte einige Haddedihn, welche bei uns standen, auf, den Mekkaner ganz vom Sande freizumachen.
„Warum das?“ fragte Halef im Tone der Überraschung. „Denkst du etwa, daß er noch lebt, Sihdi?“
„Das wohl nicht“, antwortete ich, „aber ich habe das Gefühl, als läge auf dem Gesichte noch ein leiser, leiser Lebenshauch, der nicht auf wirklichen Tod, sondern nur auf Ohnmacht schließen läßt.“
„Nur ohnmächtig? Also scheintot? Effendi, wir haben schon viel, sehr viel erfahren und gar manches erlebt, was kein anderer Mensch erleben wird, aber einen Scheintoten wieder lebendig zu machen, dazu haben wir doch noch keine Gelegenheit gehabt! Was für ein großer Ruhm würde es für uns sein, wenn wir sagen könnten, daß sogar die Macht des Todes nicht vor uns standhalten könne! Hier ist die beste, die allerbeste Gelegenheit dazu, dies zu beweisen!“
„Nur langsam, nicht wieder so vorschnell, lieber Halef! Ich habe ja noch gar nicht behauptet, daß es sich hier nur um Scheintod handle! Ich täusche mich jedenfalls, halte es aber doch für meine Pflicht, diesen Mann nicht eher vollends zu begraben, als bis ich mich überzeugt habe, daß der Tod wirklich eingetreten ist.“
„Wie kannst du zu dieser Überzeugung gelangen?“
„Indem ich seine Atmung und den Puls untersuche.“
„Die Atmung? Er holt keinen Atem mehr; das muß ja jeder sehen!“
„Das Atmen eines Scheintoten geht so leise vor sich, daß es nur bei der größten Aufmerksamkeit zu bemerken ist. Wollen sehen!“
Die Haddedihn hatten den Sand entfernt und den Körper neben die Grube gelegt. Ich kniete bei ihm nieder, schlug die Kleidung weit von der Brust zurück und hielt die Augen auf den Brustkorb gerichtet. Halef ließ sich zu gleichem Zwecke neben mich nieder. Es versteht sich ganz von selbst, daß alle andern Haddedihn nun auch herbeigekommen waren und in höchster Spannung im Kreise um uns standen. Noch war kaum eine Minute vergangen, so rief Halef:
„Jetzt, jetzt hat er Atem geholt! Hast du es gesehen, Effendi?“
Auch mir war es so gewesen, als ob eine ganz leise und sehr flache Bewegung des Thorax stattgefunden hätte; aber selbst als sich das nach
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