Zurueck in der Hoelle
Die chinesische Rotzfahne
ie Tage, Wochen und Monate flogen vorbei wie lachende Möwen, wie Wind, der durchs Haar fährt oder wie die Schwärme der fliegenden Fische, die von Delfinen gejagt, die Rümpfe des Rochens umspielten.
Will hatte keine Worte, um sein Glück zu beschreiben, und deshalb erfand er mit seinen Freunden zusammen das Flaschenpost-Tagebuch. Jeden Abend trafen sie sich in der riesigen Hängematte aus weicher Alpacawolle, die sich an Deck des Seeräuberkatamarans zwischen den beiden Hauptmasten spannte, und schrieben gemeinsam den Brief, der der Welt davon berichten sollte, was absolute Freiheit bedeutete: wie es sich anfühlte, wenn man wie Höllenhund Will, Honky Tonk Hannah, Regentropfen Jo und Moses Kahiki Chevalier du Soleil zu den besten Piraten gehörte, die die sieben Meere befuhren.
Diese Briefe, die sie in kunstvoll bemalten Flaschen ins Meer hinauswarfen, erzählten von den Abenteuern, die sie erlebten, wenn sie den Horizont hinter sich ließen. Wenn sie den Schatzkarten folgten, die Hannah tief unten im Bauch des Fliegenden Rochens aus der kreisrunden Kammer holte, und wenn sie die sagenhaften Orte betraten, zu denen diese Schatzkarten sie führten.
Sie erzählten von der Perle von Kumejima, die die Nacht zum Tag machen kann, und die sie im Westen von Okinawa im ostchinesischen Meer aus einem Tempel raubten.
Sie erzählten vom Sandkorn aus dem Golf von Guinea, das vor Santo Antonio an Afrikas Küste auf einer Sandbank vergraben lag. Doch dort hausten wagenradgroße Krabben, die Scheren besaßen, mit denen sie mühelos die Stämme von Palmen kappen konnten.
Sie erzählten von aztekischem Gold aus Cayos de Dios, vom schwarzen Drachenkopf des letzen Wikingerkönigs, von Kriegern, die fliegen konnten wie fliegende Hunde, und natürlich erzählten sie auch die Geschichte über die Rose der Aweiku:
Von einem in Möwenscheiße getauchten Schiff; vom Kampf gegen den Kraken im Bermudadreieck; vom Fliegenden Rochen und wie Hannah ihn fand; von Blind Black Soul Whistle; vom Schwarzen Baron; von einem Kanonenrennboot made by Jo; vom Tanz mit den Schwärmern im Quecksilbermeer und natürlich immer wieder vom verheißenen Land: vom vergessenen Volk, seinem Geheimnis und wie beides zusammen mit Aweiku für immer ins Reich der Träume verschwand.
Wunderwindwirbliger Augenblick! Und an den Tagen, an denen gar nichts passierte, an denen der Rochen in der Windstille schlief, streckte sich Hannah auf dem schneeweichen Tuch der Hängematte. Sie schloss ihre Augen und während ihre Fingerspitzen heimlich Wills Fingerspitzen berührten, erzählte sie eine Geschichte von früher.
Sie erzählte, was sie in der Zeit erlebt hatte, bevor ihre Freunde sie kannten. Sie erzählte von ihrer Geburt am Stadtrand von Marseille auf einer schäbigen Barke. Sie erzählte, wie sie als fünfjährige Waise die Meisterdiebin von Lissabon war; wie sie als Junge verkleidet bei einer japanischen Schmiedin – der einzigen japanischen Schmiedin, die es je gegeben hatte – das Handwerk erlernte, Samuraischwerter zu schmieden, und wie sie an der Seite des berühmtesten Piraten von Shanghai direkt in die Hölle fuhr, um dort einen Pakt mit dem Teufel zu schließen.
»Und dieser Pakt«, versicherte Hannah, »beschützt mich vor allen Gefahren der Welt. Er würde mich selbst vor dem Galgen retten.« Sie grinste verwegen. »Verfuchst! Falls ich jemals dort landen sollte. Und deswegen habe ich heute entschieden, keine neue Karte aus der Kammer zu holen. Nein, ich zeige euch etwas anderes.«
Sie griff in die Hosentasche, zog einen dreckigen Stofffetzen heraus und hielt ihn mit zwei Fingern hoch in die Luft.
»Das sieht nicht nur aus wie ein Taschentuch.« Sie rümpfte die Nase. »Es ist auch eins und zwar ein benutztes.« Sie würgte, als müsste sie sich gleich übergeben. »Das ist die Rotzfahne der Witwe Chen. Ich meine, die Einzige, die sie besaß. Und diejenigen, die sie kannten, haben behauptet, dass sie sie niemals gewaschen hat. Niemals. Igitt. Doch die Alte war schlau. Sie war schlauer als schlau, denn das Ding war so ranzig, dass selbst der gerissene Blind Black Soul Whistle es nicht anfassen wollte, als er die Witwe in Old Nassau erstach.«
Sie musterte das dreckige Tuch und steckte den Zeigefinger durch eines der Löcher.
»Aber manchmal ist Ekel ja der Weg zum Glück. Ich meine, nur weil Whistle das Taschentuch eklig fand, hab ich es nach über 40 Jahren gefunden. Und als ich mich überwunden hab, um es wie jetzt
Weitere Kostenlose Bücher