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19 - Am Jenseits

19 - Am Jenseits

Titel: 19 - Am Jenseits Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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du seine Augen gesehen, Sihdi?“ fragte mich Halef.
    „Ja“, nickte ich.
    „Und dich über sie gewundert?“
    „Nein. Diese Augenfarbe hat nicht bloß der Norden. Ich habe sie sogar im Süden der Sahara an ganz dunkel gefärbten Leuten bemerkt.“
    „Das ist es nicht, was ich meine. El Ghani hat doch behauptet, daß El Münedschi blind sei; das halte ich aber, seit ich diese Augen gesehen habe, für eine große Lüge!“
    „Auch ich neige mich dieser Ansicht zu, doch ist es nicht unmöglich, daß wir uns täuschen. Warten wir es ab!“
    „Aber was tun wir nun? Wir müssen doch aufbrechen, und er schläft!“
    „Wir dürfen ihn jetzt nicht stören, werden also bleiben, bis er erwacht.“
    „Und dann?“
    „Dann werden wir ja mit ihm sprechen und also erfahren, was er zu tun beschließen wird.“
    „Gut, warten wir also! Es zwingt uns ja nichts zur Eile, und so können wir, während er im Schlafe neue Kräfte sammelt, uns über die Kijahma (Auferstehung) freuen, durch welche wir seine schon abgeschiedene Seele aus dem Lande des Todes zurückgerufen haben. Hast du schon einmal von einer solchen Kijahma gehört, Sihdi?“
    „Ja. Ich habe sogar eine Auferstandene sehr gut gekannt und außerordentlich lieb gehabt; ich liebe sie noch heut, obwohl sie nun nicht mehr zu den Irdischen gehört.“
    „Wer ist das gewesen?“
    „Meine Großmutter, die Mutter meines Vaters, welche der irdische Engel meiner Kindheit gewesen ist und jetzt nun sicher bei den Engeln weilt. Sie war, grad wie auch meine Mutter, so reich an Liebe, daß ich noch heute von und in diesem Reichtum lebe; es ist das der größte Reichtum, den es gibt, mein lieber Halef. Die Verletzung eines Nervs war schuld, daß sie in Starrkrampf fiel und für tot gehalten wurde. Man bettete sie in den Sarg, und erst ganz kurz vor dem Begräbnisse, als die Leidtragenden den letzten Abschied von ihr genommen hatten, wurde entdeckt, daß sie noch lebte.“
    „Durch einen Zufall?“
    „Halef, du weißt, daß es für mich keinen Zufall gibt. Wenn die allmächtige Weisheit Gottes Ursachen und Wirkungen miteinander verknüpft, deren Verbindung das schwache Auge des Menschen nicht zu erkennen vermag, so wird zur Erklärung das mir so unsympathische Wort Zufall hervorgesucht. Es ist das eine Kantara el humar (Eselsbrücke), über welche sogar sonst ganz kluge Leute reiten.“
    „Lebtest du damals schon, als deine Großmutter scheintot war?“
    „Nein. Sie ist zu jener Zeit noch jung gewesen, hat aber bis in ihr sehr hohes Alter oft von der entsetzlichen Angst gesprochen, welche ihr durch den Gedanken, lebendig begraben zu werden, verursacht worden war.“
    „Hat sie denn diese Angst empfunden? Ich habe nämlich gehört, daß der Scheintote gar nichts von sich weiß, weil seine Seele den Körper verlassen hat und außerhalb desselben wandelt.“
    „Die Gelehrten behaupten allerdings, daß beim wirklichen Scheintod das Bewußtsein und die Empfänglichkeit der Sinne vollständig erloschen seien. Das ist bei meiner Großmutter zwei Tage lang der Fall gewesen; als dann am dritten Tage ihr die Besinnung zurückkehrte, hat sie sich im Sarg liegend gefunden. Doch hat sie das nur aus den Reden der um sie Stehenden schließen, nicht aber sehen oder fühlen können, weil es ihr unmöglich gewesen ist, die Augen zu öffnen oder überhaupt mit irgendeinem Glied die geringste Bewegung zu machen. Sie fand später keine Worte, die entsetzliche Angst, die Verzweiflung zu beschreiben, mit welcher sie sich angestrengt hatte, ein Lebenszeichen zu geben; aber ihr Wille, die ganze Summe ihrer geistigen Energie, war ohne Einfluß auf den Körper gewesen. Da hatte sie eingesehen, daß ihre einzige Rettung nur noch im Gebet liege. Sie war eine gottesgläubige, sehr fromme Frau, und du kannst dir denken, daß sie nie so inbrünstig gebetet hat wie damals vor der dunklen Pforte des Grabes, in welches sie bei vollem Bewußtsein gebettet werden sollte. Unsere heilige Schrift sagt: ‚Das Gebet des Gerechten vermag viel, wenn es ernstlich ist.‘ An diesem Ernste hat es bei Großmutter wohl nicht gefehlt, und so sind diese Bibelworte auch an ihr zur Wahrheit geworden. Als ein Kind zum Abschiede ihre Hand faßte, hat sie endlich, endlich die Finger bewegen und den Druck erwidern können. Das Kind hat vor Schreck laut aufgeschrien und zitternd und stammelnd die Mitteilung gemacht, daß die Tote ‚noch nicht ganz gestorben, sondern in der Hand noch lebendig sei‘, worauf man sich von der

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