1913
gewesen. Geweint.«
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Die emotionale Überwältigung im Kinosaal ruft 1913 die Jugendschützer auf den Plan. Der Pädagoge Adolf Sellmann schreibt im Vorwort seines Buches »Kino und Schule«: »Die Lehrerschaft ist dazu berufen, auf all die Gefahren, die vom schlechten Kino her drohen, aufmerksam zu machen und unsere Jugend davor zu schützen. Die Schule muss aufklärend wirken, damit man innerhalb und außerhalb ihrer Mauern einsieht, eine wie schlechte geistige Nahrung oft auch heute noch in den Kinos geboten wird. Sie muss für Aufklärung sorgen in der Presse, auf Elternabenden und Konferenzen. Sie muss darauf dringen, dass gesetzliche Maßnahmen und polizeiliche Verordnungen erlassen werden, damit unsere Jugend vor all den verderblichen Einflüssen, die durch das Kino möglich sind, behütet wird.« In Fulda beschließt die Deutsche Bischofskonferenz spezielle Richtlinien für den Klerus zum Schutz vor den negativen Auswirkungen des Kino-Besuches. Niemand soll mehr angesichts von Schundschmonzetten weinen! Es wird gefordert, dass Kinder unter sechs Jahren keinen Zutritt zum Kino haben sollen. Außerdem sollten Erwachsene auf moralisch minderwertige Filme verzichten.
Das nennt man einen frommen Wunsch.
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Was für ein schöner Name: Albert Graf Mensdorff-Pouilly-Dietrichstein. Durch die Heirat eines seiner Urahnen mit einer Prinzessin von Sachsen-Coburg im fernen neunzehnten Jahrhundert war Albert Mensdorff, genannt Graf Ali, in die Verwandtschaft beinahe aller europäischen Höfe geraten, was ihn täglich aufs Neue begeisterte. Dem Vetter des britischen Königs und k.u.k. Botschafter in London gelingt im November 1913 sein Meisterstück. Der britische König George V. schreibt ihm und hofft, dass »der Erzherzog und die Herzogin es einrichten können, im November für einige Tage Schießen nach Windsor zu kommen«. Und ob sie es können! Es ist die erste offizielle Einladung für den österreichischen Thronfolger und seine mit protokollarischen Demütigungen überzogene Gattin, die Herzogin Sophie. Graf von Mensdorff-Pouilly-Dietrichstein weiß, was ihm gelungen ist, und schreibt darum an den Erzherzog Franz Ferdinand: »Wie Sie ja wissen, sind mir solche offiziellen Unternehmungen mit Diners, Toasten, Empfängen, Theatern etc.etc. wo man halb krank wird und zu Tode gehetzt wird ein Greul (sic).« Das ist ein schlechter Witz. Denn der Graf ist wahrscheinlich der größte Partylöwe der österreichisch-ungarischen Diplomatie – er hebt von jedem seiner Diners die Menükarte auf und zeichnet am nächsten Morgen einen Sitzplan, auf dem vermerkt wird, neben wem er gesessen hat. Dass er den gesellschaftlichen Teil des Besuches des Erzherzoges so denunziert, hat ausschließlich damit zu tun, dass er und der Thronfolger sich in herzlicher Abneigung verbunden sind. Dem Erzherzog ist das aber völlig egal. Er genießt es, erstmals mit seiner Frau eine offizielle Auslandsreise machen zu können. Und er genießt, dass er kaum zwei Wochen nach der Jagd mit Kaiser Wilhelm nun mit King George V. in der Nähe von Schloss Windsor auf Fasanenjagd gehen darf. Franz Ferdinand und der König werden von drei englischen Herzögen begleitet, während die Damen in Schloss Windsor parlieren und Konzerten lauschen. Am Dienstag, dem 18 . November, werden von den Schützen tausend Fasane und vierhundertfünfzig Wildenten erlegt, die ihnen die Treiber vor die Flinte scheuchen. Am Mittwoch, dem 19 . November, schießen sie bei schönstem Sonnenschein siebzehnhundert Fasane. Am Donnerstag erwischen sie etwa eintausend Fasane. Und am Freitag dann, als der königlichen Jagdgesellschaft Wind und Regen ins Gesicht peitschen, werden dennoch achthundert Fasane und vierhundert Wildenten erlegt. Ein Gemetzel.
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DEZEMBER
Alles ist offen: Die Zukunft und die Lippen der schönen Frauen. Kasimir Malewitsch malt ein schwarzes Quadrat. Robert Musil findet es sehr dunkel in Deutschland. Die Mona Lisa wird in Florenz wiedergefunden und zum wichtigsten Gemälde der Welt. Rainer Maria Rilke wäre gerne ein Igel. Thomas Mann stellt klar: Ich schreibe nicht am Zauberlehrling, sondern am Zauberberg! Emil Nolde findet im Südseeparadies nur verstörte Menschen und Karl Kraus in Janowitz das Glück. Ernst Jünger wird in Afrika gefunden und feiert Weihnachten in Bad Rehburg. Und wie stehen die Sterne?
Im Dezember 1913 , während sich also in Paris gerade das erste ready-made, das Vorderrad auf dem Schemel, in der Hand von Marcel Duchamp dreht,
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