1913
JANUAR
Das ist der Monat, in dem sich Hitler und Stalin beim Spazierengehen im Schlosspark von Schönbrunn begegnen, Thomas Mann fast geoutet und Franz Kafka vor Liebe fast verrückt wird. Zu Sigmund Freud auf die Couch schleicht eine Katze. Es ist sehr kalt, der Schnee knirscht unter den Füßen. Else Lasker-Schüler ist total verarmt und verliebt in Gottfried Benn, bekommt eine Pferdepostkarte von Franz Marc, nennt Gabriele Münter aber eine Null. Ernst Ludwig Kirchner zeichnet die Kokotten am Potsdamer Platz. Der erste Looping wird geflogen. Aber es hilft alles nichts. Oswald Spengler arbeitet schon am »Untergang des Abendlandes«.
Es ist die erste Sekunde des Jahres 1913 . Ein Schuss hallt durch die dunkle Nacht. Man hört ein kurzes Klicken, die Finger am Abzug spannen sich an, dann ein zweiter, dumpfer Schuss. Die alarmierte Polizei eilt herbei und nimmt den Schützen sofort fest. Er heißt Louis Armstrong.
Mit einem gestohlenen Revolver hatte der Zwölfjährige in New Orleans das neue Jahr begrüßen wollen. Die Polizei steckt ihn in eine Zelle und schickt ihn schon am frühen Morgen des 1 . Januar in eine Besserungsanstalt, das Colored Waifs’ Home for Boys. Er führt sich dort so wild auf, dass der Leiter der Anstalt, Peter Davis, sich nicht anders zu helfen weiß, als ihm spontan eine Trompete in die Hand zu drücken (eigentlich hat er ihn ohrfeigen wollen). Louis Armstrong aber wird urplötzlich stumm, nimmt das Instrument fast zärtlich entgegen, und seine Finger, die noch in der Nacht zuvor nervös mit dem Abzug des Revolvers gespielt hatten, spüren erneut das kalte Metall, doch statt eines Schusses entlockt er der Trompete noch im Zimmer des Direktors erste warme, wilde Töne.
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»Gerade der Mitternachtsschuss. Schreien auf der Gasse und der Brücke. Glockenläuten und Uhrenschlagen.« Aus Prag berichtet: Dr. Franz Kafka, Angestellter der Arbeiter-Unfall-Versicherung für das Königreich Böhmen. Sein Publikum sitzt im fernen Berlin, in der Etagenwohnung in der Immanuelkirchstraße 29 , es ist nur eine Person, doch es ist für ihn die ganze Welt: Felice Bauer, fünfundzwanzig, etwas blond, etwas knochig, etwas schlaksig, Stenotypistin in der Carl Lindström A. G. Im August, es goss in Strömen, da hatten sie sich kurz kennengelernt, sie hatte nasse Füße bekommen, er sehr schnell kalte. Aber seitdem schreiben sie sich nachts, wenn ihre Familien schlafen, hochtemperierte, zauberhafte, seltsame, verstörende Briefe. Und nachmittags meist noch einen hinterher. Als Felice einmal ein paar Tage nichts von sich hören ließ, da fing er, als er aus unruhigen Träumen erwachte, verzweifelt »Die Verwandlung« an zu schreiben. Er hatte ihr von dieser Geschichte erzählt, kurz vor Weihnachten war sie fertig geworden (sie lag jetzt in seinem Sekretär, gewärmt von den beiden Fotos, die ihm Felice von sich geschickt hatte). Doch wie schnell sich ihr ferner, geliebter Franz selbst in ein schreckliches Rätsel verwandeln konnte, das erfuhr sie erst mit diesem Silvesterbrief. Ob sie ihn wohl, so fragt er aus dem Nichts, mit dem Schirm kräftig schlagen würde, wenn er einfach im Bett liegen bliebe, wenn sie sich für ein Treffen in Frankfurt am Main verabredet hätten, um nach einer Ausstellung ins Theater zu gehen, so also fragt Kafka einleitend in einem dreifachen Konjunktiv. Und dann beschwört er scheinbar harmlos ihre gemeinsame Liebe, träumt davon, dass Felices und seine Hand unlösbar zusammengebunden sind. Um dann fortzufahren: Es sei »immerhin möglich, dass einmal auf solche Weise zusammengebunden ein Paar zum Schafott geführt wurde«. Was für ein reizender Gedanke für einen Brautbrief. Man hat sich noch nicht einmal geküsst, da phantasiert der Mann schon vom gemeinsamen Gang zum Schafott. Kafka selbst scheint kurzzeitig erschrocken über das, was da aus ihm herausbricht: »Aber was läuft mir denn da alles durch den Kopf?«, schreibt er. Die Erklärung ist einfach: »Das macht die 13 in der neuen Jahreszahl.« So also beginnt 1913 in der Weltliteratur: mit einer Gewaltphantasie.
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Vermisstenanzeige. Es fehlt: Leonardos »Mona Lisa«. 1911 wurde sie aus dem Louvre gestohlen, es gibt noch immer keine heiße Spur. Pablo Picasso wird von der Pariser Polizei verhört, doch er hat ein Alibi und darf wieder nach Hause gehen. Im Louvre legen die trauernden Franzosen Blumensträuße an der kahlen Wand ab.
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In den ersten Januartagen, ganz genau wissen wir es nicht, kommt aus Krakau mit
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