1913
dem Zug ein leicht verwahrloster, vierunddreißigjähriger Russe am Wiener Nordbahnhof an. Draußen Schneegestöber. Er hinkt. Seine Haare sind in diesem Jahr noch nicht gewaschen worden, sein buschiger Schnurrbart, der sich wie wucherndes Gestrüpp unter seiner Nase ausbreitet, kann die Pockennarben im Gesicht nicht verbergen. Er trägt russische Bauernschuhe und einen vollgestopften Koffer, kaum angekommen, steigt er sofort in eine Trambahn, die ihn rausbringen soll nach Hietzing. In seinem Pass steht »Stavros Papadopoulos«, das soll nach einer griechisch-georgischen Mischung klingen, und so verwahrlost, wie er aussah, und so kalt, wie es gerade war, nahm ihm das jeder Grenzer ab. In Krakau, im anderen Exil, hatte er am Abend zuvor Lenin ein letztes Mal beim Schach besiegt, zum siebten Mal hintereinander. Das konnte er deutlich besser als Fahrradfahren. Lenin hatte verzweifelt versucht, ihm auch das beizubringen. Revolutionäre müssen schnell sein, hatte er ihm eingebläut. Doch der Mann, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß und sich jetzt Stavros Papadopoulos nannte, lernte das Radfahren nicht. Kurz vor Weihnachten stürzte er übel auf den vereisten Kopfsteinpflaster-Straßen Krakaus. Sein Bein war noch voller Wunden, sein Knie verstaucht, erst seit ein paar Tagen konnte er überhaupt wieder auftreten. Mein »prächtiger George« hatte Lenin ihn lächelnd genannt, als er ihm entgegengehinkt kam, um den gefälschten Pass für die Reise nach Wien entgegenzunehmen. Und nun gute Fahrt, Genosse.
Unbehelligt überquerte er die Grenzen, fieberhaft saß er im Zug über seinen Manuskripten und Büchern, die er beim Umsteigen hektisch in seinen Koffer stopfte.
Nun, in Wien angekommen, legte er den georgischen Tarnnamen ab. Vom Januar 1913 an sagte er: Mein Name ist Stalin, Josef Stalin. Als er aus der Tram gestiegen war, sah er rechts das Schloss Schönbrunn, hell erleuchtet im matten Wintergrau, dahinter den Park. Er geht in die Schönbrunner Schlossstraße 30 , so stand es auf dem kleinen Zettel, den ihm Lenin gegeben hatte. Und: »Bei Trojanowski klingeln«. Also schlägt er sich den Schnee von den Schuhen, schnäuzt in sein Taschentuch und drückt etwas unsicher den Klingelknopf. Als das Hausmädchen erscheint, sagt er das verabredete Codewort.
◈
Eine Katze schleicht sich in der Wiener Berggasse 19 in das Arbeitszimmer von Sigmund Freud, in dem sich gerade die Mittwochsgesellschaft zum Kolleg versammelt hat. Das ist die zweite Überraschungsbesucherin innerhalb kurzer Zeit: Im Spätherbst war schon Lou Andreas-Salomé zu der Herrenrunde gestoßen, erst argwöhnisch beäugt, nun schmachtend verehrt. Lou Andreas-Salomé trug an ihrem Strumpfband eine lange Reihe von Skalps erlegter Geistesgrößen: Mit Nietzsche war sie in einem Beichtstuhl im Petersdom, mit Rilke im Bett und in Russland bei Tolstoi, Frank Wedekind nannte angeblich seine »Lulu« nach ihr und Richard Strauss seine »Salomé«. Nun erlag ihr Freud zumindest intellektuell – sie durfte in diesem Winter sogar in seiner Arbeitsetage wohnen, diskutierte mit ihm sein neues Buch über »Totem und Tabu«, an dem er gerade saß, und hörte ihm zu, wenn er sein Leid klagte über C. G. Jung und die abtrünnigen Psychologen aus Zürich. Vor allem aber ließ sich die inzwischen 52 -jährige Lou Andreas-Salomé, Autorin mehrerer Bücher über den Geist und die Erotik, vom Meister selbst in der Psychoanalyse ausbilden – im März dann würde sie in Göttingen ihre eigene Praxis eröffnen. So sitzt sie also im feierlichen Mittwochskolleg, neben ihr die gelehrten Kollegen, rechts die schon damals legendäre Couch und überall die kleinen Skulpturen, die der antikenversessene Freud sammelte, um sich über die Gegenwart hinwegzutrösten. Und in diese andächtige Runde huschte nun, als Lou durch die Tür trat, auch eine Katze hinein. Erst war Freud irritiert, doch als er sah, mit welcher Neugier die Katze die griechischen Vasen und römischen Kleinskulpturen musterte, da ließ er ihr gerührt etwas Milch bringen. Aber Lou Andreas-Salomé berichtet: »Dabei nahm sie jedoch von ihm trotz seiner steigenden Liebe und Bewunderung durchaus keine Notiz, richtete ihre grünen Augen mit den schiefen Pupillen kaltsinnig auf ihn wie auf einen beliebigen Gegenstand, und wenn er auch nur für einen Augenblick mehr wollte als ihr egoistisch-narzisstisches Schnurren, dann musste er den Fuß vom bequemen Liegestuhl heruntertun und mit den erfinderisch
Weitere Kostenlose Bücher