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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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schwere Syphilis und ein Rückenmarksleiden hatten ihm weiter zugesetzt, nun lebte der verarmte baltische Graf mit seinen zwei Schwestern Henriette und Else in einer Etage in Schwabing. Er war inzwischen fast völlig erblindet, aber er diktierte seinen Schwestern Erzählungen und Romane voller Farbenpracht. Im Grunde erzählt er in seinen Jahr für Jahr erscheinenden Büchern immer wieder dieselbe Geschichte. Aber es ist ein sprachlich einzigartiger Singsang der Naturbeschwörung, mit dem er dem Adelsgeschlecht ein sanftes Dahinscheiden erleichtern will. Die fehlende Selbstreflexion identifiziert er als deren größten Distinktionsunterschied. Eine aufreizende Ruhe geht von seinen Büchern aus, eine Verschwendung an Gefühlen und Worten und Adjektiven, die er alle nur einsetzt, um die Sinnlosigkeit zu verdecken, in die die Moderne die Welt gestürzt hat. Niemand konnte, von Stifters »Nachsommer« abgesehen, die Pracht eines nordischen Sommers mit solcher Leidenschaft und Varianz beschreiben. Zugleich wollte Eduard von Keyserling die Nostalgie als ein untaugliches Mittel der Gegenwartsbewältigung vorführen. Wenn seine Figuren reden, dann hört er ihnen nur zu, skeptisch, amüsiert, verstört. Er glaubt nur der Natur, ihrem Wachsen und Blühen und Welken. Ziemlich genial. Gerade war »Wellen« erschienen, sein großes anti-utopisches Manifest, 1913 schrieb er an der Novelle »Am Südhang«, seinem Meisterwerk. Über dem Protagonisten Karl Erdmann von West-Wallbaum, auf einem baltischen Gut zu Hause wie einst der Autor selbst, schwebt die Gefahr eines Duells »empfindlich und feinschalig wie eine Frucht, die auf dem Südhange gereift ist«. Die ganze Novelle treibt auf dieses Duell zu. Zugleich ironisieren die Adligen in dieser Geschichte die ersten Brüche im Geschlechterverhältnis, wenn etwa die von allen begehrte Daniela von Bardow zu ihrem Verehrer Karl Erdmann sagt: »Sie sollen nicht auch kompliziert sein wollen, alle wollen jetzt kompliziert und geheimnisvoll sein und sie glauben, dann gefallen sie uns.« Wenig später, als er einen Liebesbrief geschrieben hat, den er für gefühlvoll hält, nimmt sie ihn in einer Gartenlaube wie mit dem Seziermesser fein säuberlich auseinander und nennt ihn: »Kitsch«. »Am Südhang« ist also auch ein Monument des Sprachskeptizismus. Am bestechendsten aber ist, wie Keyserling die ganze Geschichte über die Spannung hält, alles auf das große, ominöse Duell zulaufen lässt. Wird Karl Erdmann, der großspurige, kitschige Liebhaber dran glauben müssen oder sein wackrer Gegner, der ihn beleidigt hat? Und dann, auf dem Höhepunkt, lässt Keyserling einfach die beiden Schüsse vorbeigehen und die Duellanten wieder ihre Sachen packen. Alles fällt in sich zusammen. Was sich »Novelle« nennt, ist gar keine, es gibt gar kein »Ereignis«. Der Arzt, der dem Duell beiwohnt, ist sichtlich enttäuscht, er hat, wie Keyserling wunderbar ironisch vermerkt, »innerlich zu große Vorbereitungen getroffen«.
    Alle Beteiligten spüren (und mit ihnen der Leser), dass allein das drohende Duell und der mögliche Tod eine Verheißung waren. Selten ist Gegenwartsliteratur so sehr Mentalitätsstudie wie hier. 1913 oder: Ein Jahr am Südhang der Geschichte.
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    Auch Ernst Jünger hat »innerlich zu große Vorbereitungen« getroffen. Seine Lust auf Gefahr treibt ihn hinaus aus Bad Rehburg, dem Kurort, in dem es nach Kühen und nach Torf und alten Menschen riecht, und heraus aus dem elterlichen Haus, durch dessen Butzenscheiben kaum Licht dringt.
    Im August war er in Winterkleidung in das väterliche Gewächshaus gestiegen, um seinen Körper auf extreme Bedingungen vorzubereiten. Nun fühlt er sich reif für Afrika. Jahrelang hat er unter der Schulbank von den Abenteuerreisen in das Herz der Finsternis gelesen. Jetzt will er selbst dorthin. »An einem feuchten und dunstigen Herbstnachmittag trat ich mit Zittern und Bangen in einen Trödlerladen ein, um einen sechsschüssigen Revolver mit Munition zu erwerben. Er kostete zwölf Mark. Ich verließ den Laden mit einem Triumphgefühl, um mich gleich darauf zu einem Buchhändler zu begeben und ein dickes Buch ›Die Geheimnisse des dunklen Erdteils‹ zu erwerben, das ich für unentbehrlich hielt.«
    Und dann, mit dem Buch und dem Revolver im Gepäck, bricht er am 3 . November auf, ohne einem Menschen davon zu erzählen. Aber wie kommt man von Rehburg mit dem Zug nach Afrika? Leider ist er in Geographie nie so gut gewesen. Ernst Jünger kauft sich

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