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1913

1913

Titel: 1913 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Illies
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aufgegeben, dass ihn irgendjemand wirklich verstehe: »Dr.  Roseeu übersendet eine Brochure über mich; gut gemeint, und – im Grund dasselbe, was überall steht. Ich geb’s auf, von der Gegenwartskritik ein Verstehn zu erwarten.«
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    Am 18 . Dezember 1913 wird in Lübeck Herbert Ernst Karl Frahm geboren, der sich später Willy Brandt nennen wird.
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    Die beliebtesten Vornamen des Jahres 1913 sind Gertrud, Marta, Erna, Irmgard, Charlotte, Anna, Ilse, Margarete, Maria, Hertha, Frida, Else.
    Und bei den kleinen Jungs: Karl, Hans, Walter, Wilhelm, Kurt, Herbert, Ernst, Helmut, Otto, Hermann, Werner, Paul, Erich, Willi.
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    Oskar Kokoschka feiert Weihnachten mit Alma, deren Mutter und deren Tochter im neugebauten Haus in Breitenstein. Das Licht funktioniert noch nicht, darum sitzen nach dem Eintritt der Dämmerung alle vor dem Kamin, das lodernde Feuer und die vielen Kerzen tauchen alles in ein feierliches Licht. Kokoschka schenkt Alma einen großen Fächer, den er für sie bemalt hat, in der Mitte verliert der Mann Alma an einen großen Fisch. Kokoschka ist sich sicher: »Seit dem Mittelalter hat es nichts Gleichartiges gegeben, denn kein Liebespaar hat je so leidenschaftlich in sich hineingeatmet.« (Später dann, als Alma längst in Walter Gropius hineinatmet, da hat sich Kokoschka Alma als Puppe nachbauen lassen, lebensgroß, mit der Puppenbauerin besprach er detailliert jede Falte und jedes Fettpolster in der Hüftgegend, er lebt mit der Puppe dann länger zusammen als mit Alma selbst, aber das nur in Klammern, wir wollen ja nicht wissen, wie alles weitergeht, hier im Jahr 1913 ).
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    D. H. Lawrence, der gerade mit »Söhne und Liebhaber« seinen großen Erfolg in England feiert, wonach also der Mann nur entweder Sohn oder Liebhaber sein kann (auch eine Art Vatermord), hat schon in diesem Buch den Konflikt zwischen Intellekt und Instinkt zum großen Thema gemacht. Im Herbst hat er, damit seine Geliebte Frieda von Richthofen ihm glaubt, die ganze Schweiz durchwandert, nun feiern die beiden warme Weihnachten in einer Hafenkneipe am Mittelmeer. Und Lawrence verfasst an Weihnachten ein Glaubensbekenntnis der ganz eigenen Art: »Meine tiefe Religion ist der Glaube, dass das Blut, das Fleisch klüger sind als der Verstand. Wir können uns in unserem Geist irren. Aber was unser Blut fühlt und glaubt und sagt, ist immer wahr.«
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    Seine Worte in Kafkas Ohr. Felice Bauer antwortet nicht mehr. Er schreibt ihr per Einschreiben, er schickt ihr einen Eilbrief, er schickt seinen Freund Ernst Weiß mit einer Botschaft zu ihr ins Büro der Lindström AG , aber sie antwortet nicht. Dann bekommt Kafka ein Telegramm, das einen Brief ankündigt. Aber der Brief kommt nicht. Sie telefonieren kurz, Felice bittet ihn, an Weihnachten nicht nach Berlin zu kommen, sie werde ihm bald schreiben. Aber sie antwortet nicht. Als am Mittag des 29 . Dezember noch immer kein Brief in Prag angekommen ist, setzt sich Franz Kafka nieder und beginnt einen neuen Brief, seinen zweiten Heiratsantrag. Er schreibt und grübelt, schreibt und grübelt, schreibt und grübelt. In der Silvesternacht ist er auf Seite 22 angekommen. Am Ende wird der Brief 35 Seiten lang. Kafka schreibt: »Ich liebe Dich Felice mit allem was an mir menschlich gut ist, mit allem, was an mir wert ist, dass ich mich unter den Lebendigen herumtreibe.« Als um zwölf Uhr wieder die Glocken vom Hradschin herüberläuten, steht Kafka kurz auf und blickt aus dem Fenster. Im November ist die Familie umgezogen, nicht mehr auf Fluss und Brücke und Parkanlagen blickt Kafka jetzt, sondern auf den Altstädter Ring. Es schneit leise und unaufhörlich, das dämpft die Kanonenschüsse von der Burg, draußen auf dem Ring feiern die Menschen den Beginn des neuen Jahres. Kafka setzt sich wieder hin und schreibt weiter: »Sogar das, dass Du an mir Verschiedenes auszusetzen hast und ändern möchtest, sogar das liebe ich, nur will ich, dass Du es weißt«.
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    Käthe Kollwitz, ermüdet vom Leben mit ihrem Mann und unschlüssig, in welche Richtung ihre Kunst gehen soll, bilanziert in der Silvesternacht: »Jedenfalls 1913 ist ziemlich harmlos verlaufen, nicht tot und schläfrig, ziemlich viel inneres Leben.«
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    Ziemlich viel inneres Leben, wohl wahr. Robert Musil sitzt in dunkler Dezembernacht an Notizen, aus denen sehr viel später sein Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« erwachsen wird. Jetzt schreibt er den schönen Satz: »Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon

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