Neschan 02 - Das Geheimnis des siebten Richters
Prolog
»Aber du darfst mich nicht auslachen, Großvater!« Der alte Lord gab sich entrüstet. »Habe ich dich je ausgelacht, Jonathan?«
»Das stimmt nicht. Du verwechselst das. Ich habe mit dir gelacht. Vielleicht auch mal über dich. Aber das ist etwas ganz anderes. Niemals würde ich meinen eigenen Enkel auslachen. Ausgeschlossen!«
Jonathan bedachte seinen Großvater mit einem abschätzenden Blick. »Dann versprichst du es also? Bei allem, was dir heilig ist?«
»Ja doch! Nun fang endlich an. So albern wird es schon nicht sein.«
»Na gut.« Jonathans Augen versprühten noch eine letzte Warnung, bevor er sie in dem ledergebundenen Buch versenkte. Er räusperte sich. Dann begann er zu lesen.
»Donnerstag, den 8. November 1923
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal anfangen würde zu schreiben. Hausaufgaben ja. Natürlich auch die Briefe an Großvater. Aber ein Tagebuch? Nun ja, ich habe mich anders entschieden und jetzt höre ich das Kratzen der Feder auf dem Papier, das meinen Gedanken Widerstand leistet, so als wolle es sie zwingen, sich ruhiger zu bewegen und nicht in solch einem Durcheinander wie in den vergangenen zwei Monaten.«
Jonathans Augen schielten zum Großvater hinüber, auf dessen Lippen ein breites Grinsen lag. »Siehst du, jetzt lachst du doch«, beschwerte er sich.
»Das ist kein Lachen«, verteidigte sich der Angeklagte. »Ich schmunzle nur, weil mir dein Schreibstil gefällt. Und jetzt lies schon weiter.«
Nur langsam, als koste es ihn große Überwindung, ließ Jonathan den Blick wieder in das Tagebuch sinken.
»Eigentlich hätte ich schon am 12. September mit diesen Aufzeichnungen beginnen sollen (aber da nahm ich das alles noch nicht so ernst) oder sogar schon damals, als ich acht war und ich… Ja, ich glaube, dieses Tagebuch wäre unvollständig, wenn ich ihm nicht anvertrauen würde, wie alles begann.
Wie gesagt: Ich war acht Jahre alt. Zwei Jahre zuvor war Vater Mutter ins Grab gefolgt und Großvater hatte es für das Beste gehalten mich auf das Knabeninternat von Loanhead zu schicken. Das erste Jahr auf der Schule war schrecklich und ich gewöhnte mich nur schwer ein. Dann, ein weiteres Jahr später, kam diese Erkältung, die keine war. Innerhalb einer Woche war ich gelähmt und bis heute bin ich an den Rollstuhl gefesselt.
Genau zu jener Zeit begann ich von Yonathan zu träumen. Er ist äußerlich das, was ich niemals sein werde: gesund und stark. Und er kann laufen! Seitdem habe ich mich oft gefragt, ob mein Traumbruder nicht von den Kräften zehrt, die mir immer mehr abhanden kommen; vor allem in den letzten Wochen, da ich öfter denn je das Bett hüten musste – was mich letztendlich auf diese alberne Idee brachte ein Tagebuch zu schreiben.
Ich kann mich noch genau erinnern: Vor acht Wochen, genauer gesagt am 12. September, machte Yonathan, mein Traumbruder (oder ich?), einen Streifzug durch die Wälder von Kitvar, seinem Heimatort. Ehe er sich versah, fiel er in ein Loch, den Eingang zu einem weitläufigen Höhlensystem, das sich bald als die Behausung eines Erdfressers entpuppte. Diese unangenehm gefräßige Bestie versuchte mich (oder ihn?) als Frühstück zu verspeisen, aber es gelang ihr nicht. Was mich rettete, war ein Stab, den ich kurz zuvor in der Höhle gefunden hatte. Er bestand aus rötlichem, gewundenem Holz, hatte einen goldenen Knauf mit vier verschiedenartigen Gesichtern darauf und eine goldene Spitze an seinem Ende. Aber was viel wichtiger war: Der Stab besaß übernatürliche Kräfte und verwandelte meinen Jäger, den Erdfresser, zu Asche.
In meinen Träumen wohne ich (das heißt, Yonathan) nicht in einem solchen Herrenhaus wie diesem hier, sondern in einer einfachen Fischerkate, die Navran Yaschmon gehört; er sorgt dort für mich. Navran erzählte mir nach meiner Heimkehr, dass der Stab Haschevet heiße, er sei der Amtsstab der Richter von Neschan. Diese Richter sorgen dafür, dass der böse Gott Neschans, Melech-Arez, und seine Diener, allen voran Bar-Hazzat, nicht die Oberhand über die Länder des Lichts gewinnen können. Weiterhin eröffnete mir Navran, dass der Stab dringend in die Hände des sechsten Richters, Goel, gelegt werden müsse und dass niemand anderer als ich selbst, der Yonathan meiner Träume, diese Aufgabe erfüllen könne. Der Grund war einfach: Jeder, der den Stab berührte, würde unweigerlich von seinem Feuer verzehrt werden. Ich sei von Yehwoh auserwählt und deshalb noch nicht zu Asche geworden.
In der
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