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192 - Nah und doch so fern

192 - Nah und doch so fern

Titel: 192 - Nah und doch so fern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Seidel
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blutete. Etwas musste ihn an der Schläfe getroffen haben. Außerdem war er fertig, das merkte man. Er keuchte, sein langes schwarzes Haar hing in Strähnen herunter. Als die ersten Speere flogen, zerrte er einen Toten hoch und benutzte ihn als Schild. Doch das konnte nicht lange gut gehen.
    Schade um ihn, dachte Victorius noch. Im nächsten Moment schrie er gellend auf.
    Ein verirrter Speer hatte seine Perücke durchbohrt und vom Kopf gefegt.
    »Mon dieu! Ils sont fous, ces sauvages (›Die spinnen, die Wilden!‹) !«, brüllte Victorius empört. Als er sich nach seiner rosa Haarpracht bückte, sah er den jungen Mann auf sich zukommen, das Schwert in der einen Hand, den toten Anangu als Rückendeckung nutzend.
    »Mach das Schiff los!«, schrie er.
    »Wa… was?« Victorius’ Augen wurden rund.
    »Los, mach schon!«
    Wieder zischten Speere heran. Ob die Anangu den jungen Mann töten oder kampfunfähig machen wollten, konnte Victorius nicht einschätzen. Es spielte auch keine Rolle mehr – jetzt, da er selber in die Schusslinie geraten war. Er und seine Roziere.
    Victorius hetzte los. Gebückt, die Perücke mehr schlecht als recht auf dem Kopf, rannte er von einem Tau zum anderen.
    Einmal um die Gondel. Schon hob sich die Roziere träge vom Boden. Victorius sprang mit einem Satz ins Innere, hielt sich irgendwo fest, zog die Beine nach.
    Der junge Mann war fast heran. Ein paar Meter noch. Aber der Ballon hatte sich inzwischen prall gefüllt, und das Luftschiff hob ab. Er würde springen müssen – und wie sollte er das, ohne seine Rückendeckung aufzugeben?
    Victorius sah, wie er sich gehetzt umdrehte. Seine Haare flogen, das Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. Er war verloren, wenn ihm niemand half, ohne Zweifel.
    Das konnte dem Prinz eigentlich egal sein. Er hatte ja einen Auftrag zu erledigen. Aber der junge Mann war so tapfer!
    Vielleicht hatte er französische Vorfahren!
    Wieder hoben die Anangu ihre Speere. Ein paar Sekunden noch, dann war die Roziere außer Reichweite, die Salve unterwegs und alles zu spät.
    »Pfeif drauf!«, sagte Victorius, langte nach seiner geladenen Arquebuse und legte an. Mit ohrenbetäubendem Getöse fauchten Pulver und Blei aus dem altertümlichen Gewehr.
    Natürlich hatte Victorius nicht auf die Diener seines HERRN gezielt; der Knall allein reichte, um sie zu verwirren und innehalten zu lassen. Außerdem – und das hatte er nicht einmal beabsichtigt – wurden die Mammutwarane nervös und begannen Dampf auszustoßen. Erste Nebel trieben über den Platz.
    Der tapfere junge Mann aber schien zu begreifen, dass ihm Victorius eine Chance bot. Er ließ den Toten fallen und rannte los, hinter dem steigenden Luftschiff her. Victorius lud nach, so schnell es ging, schoss ein zweites Mal und schüttete gleich wieder Pulver in den Lauf.
    Der junge Mann draußen rannte um sein Leben. Urplötzlich flog ein Schwert an Victorius vorbei, quer durch die Gondel.
    Zwei Hände kamen in Sicht, krallten sich am Schwellenrand fest. Ein Kopf tauchte auf. »Hilf mir!«, keuchte der Fremde.
    Victorius legte das Gewehr zur Seite, beugte sich vor und griff nach den Handgelenken. Ein Blick hinunter zeigte ihm, dass die Warane den Platz fast vollständig eingenebelt hatten.
    Die Anangu heulten vor Wut; sie konnten das Luftschiff durch die Schwaden nicht einmal mehr sehen.
    »Du hast gut gekämpft«, ächzte Victorius, während er dem jungen Mann in die Gondel half. »Bist du ein Franzose?«
    »Nein«, kam es zurück; schwer atmend, völlig erschöpft.
    »Ich bin Daa’tan.«
    ***
    Die Sonne ging auf. Goldenes Licht ergoss sich über die Ebene, ließ den Nebel am Fuß des Uluru leuchten. Irgendwo in der Ferne trieb unter den Wolken ein Luftschiff davon.
    Es war still auf dem Platz. Die Anangu sprachen kein Wort, während sie ihre Toten und Verwundeten bargen. Keine Trauer, keine Tränen. Nur gelegentliche scheue Blicke den Uluru hinauf. Noch verströmten seine Flanken den Hauch der Nacht. Doch es wurde schon warm allenthalben, und bald schon würde der rätselhafte rote Felsen wieder aufflammen, leuchtend wie ein Fanal. Was sich in seinem Inneren befand, war keinem Menschen erlaubt zu wissen. Einzig die Stimme durften die Auserwählten hören. Die Stimme der Macht.
    Die Anangu duckten sich in Erwartung einer Strafe dafür, dass der Fremde entkommen war. Doch die körperlose Stimme, die in ihren Köpfen ertönte, hatte einen milden Klang.
    Es ist gut, sagte sie zu ihren Dienern. Ihr habt alles richtig gemacht.

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